14. Jahrgang | Sonderausgabe | 17. März 2011

Von Selbstmördern und Neurotikern

von Mathias Iven

Bücher über berühmte Familien stehen in der Gunst der Leser immer wieder ganz oben. Und so verwundert es, dass bis zum heutigen Tage noch niemand eine Biographie der Familie Wittgenstein vorgelegt hat. Wenn man sich das weitverzweigte verwandtschaftliche Geflecht der „österreichischen Krupps“ erschließen möchte, braucht es zahlreiche, manchmal auch sich widersprechende Bücher. In solch einer Situation blickt man natürlich um so gespannter auf eine Publikation, die schon im Titel den Namen dieser berühmten österreichischen Familie trägt.
Allerdings wird, um es gleich ganz deutlich zu sagen, das in deutscher Übersetzung erschienene Buch des britischen Multitalents Alexander Waugh seinem Anspruch nicht unbedingt gerecht. Der Titel suggeriert zwar, dass hier eine Familienbiographie vorgelegt wird, doch der Inhalt belehrt uns schnell eines Besseren. Es geht in erster Linie um Paul Wittgenstein, den vor allem durch sein bei Maurice Ravel in Auftrag gegebenes Konzert für die linke Hand berühmtgewordenen Pianisten. In diesem Fall, da es bis zum heutigen Zeitpunkt keine umfassende Studie zu dessen Leben gibt, ein durchaus verdienstvoller Ansatz. Allerdings scheint Waugh, der seit Jahren selbst als Komponist und Musikkritiker tätig ist, mit der Darstellung des familiären Umfeldes ein wenig überfordert gewesen zu sein. Schon nach den ersten Seiten fragt man sich: Was will der Autor eigentlich? Einen Skandal, eine Abrechnung, die Entwürdigung einer in ihrer (und vom Autor überhaupt nicht erfassten!) Verschiedenheit der Mitglieder der äußerst interessanten Familie des letzten Jahrhunderts?
Es ist, wenn auch gewöhnungsbedürftig, weniger Waughs Stil, der den Leser stutzen lässt: Da stehen einzelne Kapitel manches Mal eher verloren im Raum, relativ willkürlich werden Familienmitglieder neu eingeführt oder Vor- und Rückblenden in den zeitlichen Abläufen geben Anlass zur Irritation. Es sind auch nicht die für das Verständnis des lebensweltlichen Umfeldes der Familie relativ unwichtigen Wetterberichte, die der Autor meint, immer wieder zitieren zu müssen und deren Exaktheit im krassen Gegensatz zu seinen Schilderungen des politischen und geschichtlichen Geschehens steht. Nein, es sind die Fakten! Da werden einerseits Dinge als gegeben dargestellt, die so nicht stimmen, und für die es auch keinerlei Belege gibt, andererseits werden bereits veröffentlichte Quellen falsch interpretiert beziehungsweise in äußerst verknappter und damit entstellender Art und Weise wiedergegeben. Es muss halt alles in das einseitig verfestigte Bild des Autors passen! So bei der Darstellung von Ludwig Wittgensteins in die Mitte der zwanziger Jahre fallenden Volksschullehrerzeit, von der der Leser den Eindruck zurückbehält, dass es sich bei dem Philosophen um ein ständig Schläge verteilendes Monster gehandelt haben muss.
Schaut man in den Anmerkungsteil des Buches, so fällt auf, dass der Autor vorrangig auf der Grundlage von Zweit- und Drittquellen zitiert. Dabei wurden in der englischen Ausgabe Zitate nicht immer eindeutig gekennzeichnet, bibliographische Angaben sind teilweise unvollständig oder unkorrekt (beispielsweise wurde das erwähnte „Privatarchiv Pierre Stonborough“ nie eingesehen!). Anzuerkennen ist, dass im Nachhinein wenigstens für die nunmehr vorliegende deutsche Fassung versucht wurde, die zahlreichen, von Waugh in erster Linie dem Wittgensteinschen Familienbriefwechsel und privaten Aufzeichnungen entnommenen Originalzitate möglichst fehlerfrei wiederzugegeben.
Natürlich kann man sagen, dass solch eine oberflächliche und auf schnellen Erfolg hin orientierte Schreibweise nur der Eingeweihte bemerkt. Wem wird schon auffallen, dass es selbst noch auf den letzten Seiten Ungereimtheiten bei der Anzahl der Kinder gibt? Dennoch bleibt die Frage: Warum wurde eigentlich niemand „vom Fach“ für das Lektorat herangezogen? – Und so kann ich mich nur dem Urteil von Joachim Schulte anschließen, das dieser bereits nach dem Erscheinen der englischen Ausgabe in der NZZ fällte: Das Buch stellt einfach nur eine „verpasste Gelegenheit“ dar.

Alexander Waugh: Das Haus Wittgenstein. Geschichte einer ungewöhnlichen Familie, aus dem Englischen von Susanne Röcke, Fischer Taschenbuchverlag, Frankfurt/M. 2010. 440 S. 10,95 Euro