von Marko Martin
Was für ein Leben! Geboren 1924 im Berliner Scheunenviertel und 1938 der mörderisch gewordenen Heimat mit einem der letzten jüdischen Kindertransporte nach England entkommen. Dann nach Kriegsbeginn dort als „feindlicher Ausländer“ interniert und mit einem Gefangenenschiff nach Australien deportiert. Gefahren und Fremdheiten, die sich in atemberaubender Schnelligkeit potenziert haben mussten in der Wahrnehmung dieses nun am anderen Ende der Welt gestrandeten Jungen.
Und doch könnte man ihn als Glückspilz bezeichnen, denn im Gegensatz zu Millionen anderer hat er nicht nur überlebt, sondern aus seinen Erlebnissen Erfahrungen gefiltert, das heißt Bücher gemacht: Wir sprechen vom Schriftsteller Walter Kaufmann, der inzwischen seit vielen Jahren in Kleinmachnow lebt und nun seine Autobiografie „Im Fluss der Zeit“ vorgelegt hat.
Der Titel ist treffend gewählt, denn dieser Text fließt in der Tat: vom Gestern ins Heute, von Auszügen aus Kaufmanns zahlreichen Büchern hinein in aktuelle Kommentare und Reflexionen. Und es scheint, als seien die drei Punkte, mit denen viele der Passagen enden, tatsächlich einem Leben angemessen, wie man es sich ereignisreicher kaum vorstellen kann: Obstpflücker und Kriegsfreiwilliger in Australien, Schlachthofarbeiter in Melbourne und Seemann … Als solcher gewerkschaftlich organisiert, besuchte er 1955 zu den damaligen Weltjugendfestspielen Warschau – wo man übrigens, der Autor erwähnt es leider nicht, erst ein Vierteljahrhundert später mit „Solidarnosc“ die erste freie Gewerkschaft zeitweilig zuließ.
Der junge Matrose, bereits damals schriftstellerisch tätig, bereiste danach die Sowjetunion und die DDR, in die er dann 1957 übersiedelte, wobei er seinen australischen Pass freilich sicherheitshalber behielt – eine interessante Parallele zum allzeit vorsichtig-listigen österreichischen Staatsbürger Bertolt Brecht, die Walter Kaufmann jedoch auch nicht zieht.
In der Tat zeichnet dieses lebenspralle Buch eine gewisse gedankliche Unschärfe aus. Zwar findet sich in keiner Zeile provinzieller DDR-Mief, doch die hohe Kunst des partiellen Wegsehens wird an vielen Stellen ausgeübt. Immerhin hatte der integre Herzenssozialist bereits in Australien Artur Koestlers berühmten Roman „Sonnenfinsternis“ gelesen und war von einem seiner Genossen darüber informiert worden, dass Stalin mehr deutsche Kommunisten auf dem Gewissen hat als Hitler. Intellektuelle Konsequenz daraus? Man sucht sie vergeblich. Und kann sich doch der Sympathie für diesen jungen (und dann auch älteren) Mann mit dem buschigen Schnauzbart nicht versagen, den man sich – später auf Schiffen der ostdeutschen Handelsmarine nach Südamerika unterwegs – als eine Art guten Kameraden, sozialkritischen Käpt’n Blaubär, ja als eine Art Jack London der DDR vorstellen muss. Was keineswegs despektierlich gemeint ist, gab es im Literaturleben des SED-Staates ja so viele Genossen-Romanciers nicht, deren Lebensträume derart herzhaft offen waren: „Die Welt bereisen, den Wein des Lebens kosten, Männerfreundschaften und die Zuneigung der Frauen gewinnen – und Bücher schreiben, die viel gelesen werden.“
Wer zu DDR-Zeiten diese Bücher Walter Kaufmanns gelesen hat (der Verfasser dieser Zeilen zählt dazu), wurde nämlich tatsächlich mit einem Hauch von großer weiter Welt beschenkt. Wie packend dieser Autor schrieb, mit wie wenig Sätzen es ihm gelang, eine unverwechselbare Atmosphäre zu schaffen, in der Schilderung australischer Gefängnisse ebenso wie amerikanischer Obdachlosen-Asyle – man bekommt auch jetzt einen Eindruck davon, in eben jenen als Selbstzitat kenntlich gemachten Passagen aus den vorangegangenen Romanen, Reportagen und Erzählungen. Was gewiss von Gewinn ist, mitunter aber auch etwas schade. Denn rasend schnell geht es von Angela Davis zu den Genossen in Israel (KP-Genossen im Ausland scheinen ihm offensichtlich vertrauenswürdiger als die Bonzen daheim), dann fahren wir bereits im Cadillac quer durch Kuba (Castros Straflager finden selbstverständlich keine Erwähnung, da ja die US-Blockade gegeißelt werden muss) oder befinden uns auf dem Flughafen in Tokio.
Doch wäre zwischendurch nicht ein wenig Zeit und Platz gewesen für einige Reflexionen in eigener Sache? Wie nämlich ließ es sich wohl durch die Welt reisen, wenn man lebte und veröffentlichte in jener zugemauerten DDR, die ihre Bürger bereits abknallte, wenn sie nur von Ost- nach Westberlin zu fliehen versuchten? Und wie geht heute ein Überlebender des Holocaust mit der Tatsache um, dass er sich zu jenem deutschen Staat bekannte, der Israel ja nicht nur rhetorisch Feindschaft geschworen hatte, damals beinahe jeden Tag nachzulesen in den Hetzartikeln des „Neuen Deutschland“, sondern auch ganz praktisch tätig war – mit kaschierten NVA-Flugzeugen beim syrischen Angriffskrieg während Yom Kippur 1973 oder bei der Ausbildung von Abu Nidals Judenmördern in abgeschirmten Brandenburger Manövergebieten?
Schließlich: Wie konnte man jahrelang Generalsekretär des ostdeutschen PEN-Clubs sein, dessen Daseinsgrund darin bestand, permanent gegen die eigene Satzung zu verstoßen, will heißen, verfolgten Schriftstellern in der DDR und im Ostblock eben nicht beizustehen, sondern stattdessen die Solidarität zu verweigern?
Trotz dieser notwendigen Fragen – ein bornierter Verklärer der DDR ist der Weitgereiste keineswegs. Obwohl er die aufgrund nachlassenden Käuferinteresses nach der Wende erfolgte Makulierung von DDR-Büchern skandalöserweise eine „neuzeitliche Bücherverbrennung“ nennt, ist er in anderen Passagen durchaus hellsichtig und gewinnt besonders der Stasi-Thematik beklemmende Szenen ab. Mit dem MfS hat sich dieser trotz allem Unabhängige eben doch nicht eingelassen, obwohl man ihn selbst im Freundes-, ja Familienkreis genau dessen verdächtigt hatte.
Ironie der Geschichte: Womöglich waren es ja gerade jene „mangelhaften theoretischen Kenntnisse“, die Kaufmann vor einer Spitzeltätigkeit schützten – und 1959 von der damaligen MfS-Informantin Christa Wolf alias IM „Margarete“ moniert worden waren. Und so, wie Christa Wolf anschließend für 34 Jahre diese Episode vergessen hat, scheint auch Walter Kaufmann vergessen zu haben, sich einige entscheidende Fragen zu stellen. Überaus lesenswert bleibt seine Autobiografie dennoch. Vermutlich ist sie in ihren offensichtlichen Stärken und nicht minder in den ins Auge springenden Schwächen sogar repräsentativer, als es ihr Autor vermutet.
Walter Kaufmann: Im Fluss der Zeit. Auf drei Kontinenten. Dittrich-Verlag, Berlin 2010, 293 Seiten, 19,80 Euro
Erstveröffentlichung in Märkische Allgemeine. Nachdruck mit freundlicher Genehmigung des Verlages.
Schlagwörter: Angela Davis, Artur Koestler, Christa Wolf, Marko Martin, Neues Deutschland, Walter Kaufmann