20. Jahrgang | Nummer 2 | 16. Januar 2017

Querbeet

von Reinhard Wengierek

Meine Fundstücke im Kunstgestrüpp: diesmal ein Abschiedsdinner mit Hauen und Stechen, eine Abschiedstour mit Glanz und Gloria …

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Wer kennt das nicht: Man hat da eine Einladung oder man muss einladen ‑ uralte Freunde, ältere Bekannte. Aber man hat dazu überhaupt keine Lust. Nein, nicht der Alltagsstress; vielmehr sind es die so langjährigen, zuletzt immer missmutiger, nur noch routinemäßig gepflegten Bindungen, die allmählich zu Altlasten wurden, die man los werden möchte. Man hat sich nicht wirklich noch was zu sagen. Und geht sich trotz Höflichkeiten mächtig auf den Keks. Doch einfach Schluss zu machen mit diesen ausgeleierten Beziehungen, das traut man sich auch nicht. Vertrackte Lage!
Das finden auch Peter und Katja, ein Mittelstands-Ehepaar in mittleren Jahren. Doch jetzt wollen sie endlich raus aus der Misere, wollen ihr Geflecht aus Freundschaften optimieren und allem Abgelebten den Laufpass geben. Die radikale Lösung, die sie sanft verpacken, indem sie die Betreffenden einladen zu einem Essen, das insgeheim ein Abschiedsessen ist. Noch einmal, danach nie wieder. Bea und Anton sind die ersten Opfer. Doch Anton kommt – Überraschung! – ohne seine Bea. Und: Er riecht den Braten, durchschaut das Spiel, fügt sich aber dem geplanten Rauswurf nicht. Und kämpft mit allen Mitteln um Wiederbelebung der komatösen Freundschaft. Wobei es hoch hergeht und allerhand unter den Teppich gekehrte Wahrheiten rigoros zur Sprache kommen.
Eine Therapiesitzung der etwas anderen Art hat das berühmte französische Autorenduo Matthieu Delaporte und Alexandre de la Patellière konstruiert für seine Komödie „Das Abschiedsdinner“. Die beiden sprachmächtigen Dramatiker mit feinem Sinn für Aberwitz und Groteske greifen tief in des Lebens alltägliche oder nicht alltägliche Fülle. Und bringen mit Feingefühl wie auch mit Rücksichtslosigkeit die zunehmend brenzliger, für alle Beteiligten auch schockierender werdende Lage gehörig zum Krachen und Kochen.
Regisseur Jürgen Wölffer hat im Berliner Theater am Kurfürstendamm dieses komödiantische Lehrstück in Sachen Freundschaft mit gehörigem Tempo und gekonntem Mut zu krassen, bis ins Klamottige gesteigerten Ausfällen inszeniert. Eigentlich ist es ja eine Zimmerschlacht zwischen den beiden sehr gegensätzlichen, trotzdem seit Urzeiten befreundeten Mannsbildern, dem eher biederen Peter (René Steinke) und dem eher durchgeknallten Anton (Ingolf Lück); Peters Ehefrau Katja (Rebecca Immanuel) füllt ihre undankbar dekorative Nebenrolle jedoch mit frechem Charme. – Ein Glück für Wölffer, den legendären Seniorchef vom Kudamm-Boulevard, ist sein Casting. Der alte Meister weiß natürlich, solch ein Redegewitter geht nur mit Erstklassigen wie Lück & Steinke. Die beiden Stars setzen punktgenau Pointen, können rasen und plötzlich innehalten, sind schlagfertige, aber auch schlagkräftige Komödianten und wissen genau, wo und wie bei allem Hauen und Stechen das Tragische aufscheinen muss. Zum Schluss stehen alle klüger, demütiger und auch wieder lustvoll herzlich beieinander. Alle haben was gelernt; ein neues Miteinander ist angesagt. – Prima Einstieg ins neue Jahr.

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Queen Esther mit Reagan, George W. Bush, mit den Clintons, mit Ella Fitzgerald, Bessie Smith, Aretha Franklin, mit Papst Johannes Paul II., mit Queen Elizabeth, BB King, Billie Holiday, mit Chick Corea, Jesse Jackson, mit Prince… – was für eine Fotostrecke! In sanft rockigen Sound getaucht, rauscht sie vorüber am Bühnenhintergrund. Als vielsagende Ouvertüre von Queen Esther Marrows „The Harlem Gospel Singers Show“.
Mrs. Marrow heißt tatsächlich Queen Esther, ihre beiden Vornamen erhielt sie nach Königin Esther aus dem Alten Testament. Und wer es noch immer nicht weiß: Sie gilt als Königin der Gospelszene. Oder anders: Die Marrow ist ein Weltstar. Entdeckt mit 20 von Duke Ellington, ging es mit ihrer stählernen Stimme phänomenalen Umfangs, ihrer unglaublichen Ausdruckskraft und Bühnenpräsenz schnell steil bergauf.
Queen Esther singt in Clubs, Theatern, Hallen, Arenen, Kirchen mit allem, was Rang und Namen hat in der Soul-, Blues-, Jazz-, ja auch Rock- und sogar Hiphop-Szene. Was für eine Vielfalt; stilistisch hat die ihre Wurzeln im Gospel. Die Marrow ist denn auch, so die Fachwelt, „legitime Nachfolgerin“ von Mahalia Jackson, ihrem erklärten und geliebten Vorbild – auch bezüglich des Politischen, das sie lebenslang umtreibt. Bis heute erhebt sie im Geist Martin Luther Kings ihre Stimme wo auch immer sie auftritt in der weiten Welt gegen Diskriminierung von Schwarzen, von Minderheiten, Schwachen. Schließlich steckt schon im Wesen vom Gospel die Botschaft von Anteilnahme, Aufbruch, Brüderlichkeit; von Glaube, Liebe, Hoffnung. Es ist diese Spiritualität, die Queen Esther Marrows Gesang so besonders macht. Wie auch die Auftritte ihrer „Babies“, der „Harlem Gospel Singers“.
Vor einem Vierteljahrhundert gründete Marrow diese Truppe, die sie immer neu mit Hochbegabten zusammensetzt, sozusagen eine kontinuierliche Supertalente-Förderung. Auch dafür wurde zusammen mit der Produzentin Roseanne Kirk 1992 Queen Esthers „The Harlem Gospel Singers Show“ entwickelt, die seither – alljährlich neu inszeniert – mit einer tollen Band sowie dem Musikchef und sensationellen Pianisten Anthony Evans durch die Welt tourte.
Warum tourte, warum Präteritum? Weil: Q.E.M. wird demnächst ihren Bühnen-Abschied nehmen; sie ist jetzt 76. – Aber: Es gibt noch eine Abschiedstour, die jetzt durch Deutschland läuft. ‑ Man darf sie einfach nicht verpassen! Denn gleich nach besagtem Video-Vorspiel, das Esthers bewegtes Leben zwischen Kunst und Bürgerrechtsbewegung, Entertainment und Gläubigkeit im Schnelldurchlauf aufreißt, überfällt eine wahrlich hochtourige Beglückungsmaschine das Publikum. Wow!
Sofort wippen da bei Kind wie Greis nicht nur die Fußspitzen, mindestens. Was für ein Tsunami aus Rhythm&Blues! Was für eine rockige Band! Was für ein sexy Sänger-Sextett, im poppig-priesterlichen Gewand. Und im Goldkleid das Goldkind in der Mitten: Diva Queen Esther. – Später, nach der Pause: Die chorischen Damen im Großen Schwarzen mit Glitzer drauf, die Herren befrackt und die Queen als Lady in leuchtendem Rot. Eleganz und Glamour müssen sein.
Die super Show ist ein kontrastreicher Mix der erstklassig arrangierten Musiken (von Klassiker-Hit bis Pop). Und sie ist nach sämtlichen Regeln perfekt gemacht – effektvoll gestylt, dramaturgisch durchdacht, völlig frei von Kitsch. Ein raffiniert komponiertes, so sprühendes wie besinnungsvoll innehaltendes Gesamtkunstwerk aus Tönen, Stimmungen, Farben, Licht, Bewegung, Bildern, Botschaften. Aus Sakralem (auch von Gott ist die Rede), aus Meditativem und Schmissigem, auch Komischem (sogar Albernem) und Rockigem – mithin das Leben ganz.
„In der Bibel steht, man solle Gott feiern, indem man das Tamburin schlägt, in die Hände klatscht und Instrumente klingen lässt. Es muss ja nicht Gospelmusik sein. Gott meint: Lobt mich auf eure Weise“, so Queen Esther. Und lässt sich Gottes Wort nicht zweimal sagen, macht mit ihren Leuten vom Stab sowie ihren stimmgewaltigen „Babys“ Showpalast, Domkirche, Politarena, Dancefloor. Also Überwältigungstheater: Mutig opernhaft, meditativ, dann wieder zum Mitklatschen und – Hände hoch, raus aus den Sesseln! – Mitsingen, Jubeln, Hüfte schwingen. Beim finalen Titel „Rise up“ (der Saal steht stramm aufrecht) agitiert Marrow mit Pathos das gebannte Publikum: Respekt, Empathie, Solidarität. Am Bühnenhorizont prangt dick in Großbuchstaben die Losung „KEEP HOPE ALIVE“. Dann dröhnt der Chor „Oh, Happy Day“. Die Menge dröhnt zurück. Handys blitzen, Feuerzeuge fackeln, Arme winken, das euphorische Glück tobt. – Ach, wer wohl taumelte nicht einmal wenigstens ein bisschen in die Glückseligkeit …