von Gerd Kaiser
Die eben erschienene Gemeinschaftsarbeit eines polnischen und eines deutschen Autors, Krzysztof Pilawski und Holger Politt, untersucht kenntnisreich den hierzulande oftmals unbeachteten oder unverstandenen Aufstieg der Nationalkonservativen Polens an die Schalthebel der Geschicke des Landes. Die weitergehenden Pläne des politischen Strippenziehers Jarosław Kaczynski zielen auf nichts weniger als die „Neugründung“ der EU.
In ihrer brandaktuellen, klug durchdachten und strukturierten Publikation analysieren die beiden Autoren, an Hand herausragender Entwicklungsprozesse, seiner wesentlichen Parteien und markanten Politiker vom Ende des 19. Jahrhunderts bis in die jüngste Gegenwart, den widersprüchlichen Weg Polens zu einem eigenständigen Staatswesen in Ostmitteleuropa. In ihrer Geschichtspolitik, dem „instrumentalisierten und vorbedachten Umgang“ des derzeitigen Regierungslagers mit der polnischen Geschichte, holen sich die Nationalkonservativen, denen zwei bis drei Jahrzehnte Regierungszeit zugemessen werden, ungeniert aus dem „Steinbruch“ der Geschichte, was ihren Zielen dienlich sein könnte. Ihre Geschichtspolitik stützt sich dabei auf das allein selig machende Kriterium der „Einstellung zur Unabhängigkeit Polens“.
Krzysztof Pilawskis Wirken als Journalist und Publizist der Linken ist mit der Wochenzeitschrift Przegląd verbunden. 2005 erschien von ihm, wie auch die hier vorzustellende Publikation gefördert durch die Rosa-Luxemburg-Stiftung (RLS), die geschichtspolitische Untersuchung „Skad sie biora kommunisci“ (Wo kommen die Kommunisten her?). Das jüngst in gemeinschaftlicher Arbeit mit Holger Politt veröffentlichte Buch vereint beider Autoren kenntnis- und initiativreiche Forschungen zu polnischer Geschichte und Politik. Politt, langjähriger Mitarbeiter der RLS [und Blättchen-Autor – d. Red.] erschloss bis dato nicht nur in Deutschland unbekannt gebliebene politische Schriften Rosa Luxemburgs. Bisher liegen zwei voluminöse Bände, „Nationalitätenfrage und Autonomie“ (2012) sowie „Arbeiterrevolution 1905/06“ (2015) vor. Seinem wissenschaftlichen Spürsinn zu verdanken ist auch, dass Rosa Luxemburgs „Herbarium“, 2010 deutsch und polnisch in Kraków gedruckt, interessierten Lesern als bibliographische Kostbarkeit zugängig wurde.
Den Triumph (2015) des derzeitigen polnischen Regierungslagers PiS sieht das Autoren-Duo nicht etwa darin begründet, dass an seiner Spitze ein außergewöhnlich begabter Stratege vom Format Kaczynski stünde, spiritus rector einer Partei, die ein Wechselbad von Wahl-Erfolgen und Miss-Erfolgen hinter sich gebracht hat, sondern weil es dieser Partei gelang, die „Unzufriedenen und Frustrierten“ aller Couleur anzuziehen. Viele ihrer Wähler sehnten sich nach einer Lösung der angestauten Probleme, die Abstrafung der dafür Verantwortlichen, „gegebenenfalls auch ohne Rücksicht auf Geist und Buchstaben der demokratischen Prozeduren“.
Die PiS-Botschaft „Polen im Verfall“ – während der beiden entscheidenden Wahlkampagnen des Jahres 2015 der PO-Botschaft von 2011 „Polen im Aufbau“ entgegengesetzt – führte die PiS nach oben, wie regional- und gesamtpolnische Entwicklungen in Verbindung mit den Biografien eingebundener Politiker, dokumentieren. Im Oktober 2015 wählte knapp die Hälfte aller Wähler im Land, 46,8 Prozent, die PiS. Die Wahlergebnisse werden differenziert interpretiert: 52,3 Prozent der zur Wahl gegangenen Arbeiter wählte PiS, lediglich 7 Prozent eine der beiden angetretenen linksorientierten Formationen. Erstmals wählte ein Großteil der jugendlichen Wähler die PiS. Selbst Alltagskleidung bekundet massenhaft: „Linke der Welt, Pfoten weg von Polen“. Die Manifestationen in Großstädten für die Verteidigung der Verfassung werden dagegen von Menschen mittleren Alters und älterer Jahrgänge geprägt.
Ganz im Sinne der PiS, werden die Biografien von Männern, die tatsächlich oder erdichtet aus „weißen Herrenhäusern“ stammen, auf ein „nationales und christliches“ Polen zugeschnitten. Als 1962 der polnische Film „Von zweien die auszogen, den Mond zu stehlen“ die polnischen Kinos eroberte, hatten die begeisterten Zuschauer keine Ahnung, dass die beiden Zwillingsbrüder, gespielt von Lech und Jarosław Kaczynski, die als „Placek“ und „Jacek“ im Film den Nachbarn zur Last fallen, schließlich auf die Idee kommen, den Mond zu stehlen und zu verkaufen, um ohne einen Handschlag tun zu müssen, reich zu werden, Jahrzehnte später einmal an der Spitze Polens stehen würden. Zwillingsbruder Lech bis 2012, dem Jahr in dem der Mitbegründer der PiS und seinerzeitige Präsident Polens, zu den mehr als hundert Opfern des Flugzeugabsturzes einer polnischen Regierungsmaschine vor den Toren von Smolensk, unweit von Katyn gehörte, wo die polnische Delegation der Toten des Massenmordes an polnischen Kriegs- und Zivilgefangenen gedenken wollte.
Unter „Pan Jarosław“ rücken die etablierten polnischen Nationalkonservativen die Geschichtspolitik in den Vordergrund ihrer programmatischen Vorstellungen. Nach außen richtet sie sich gegen Deutschland und Russland, nach innen zeigen sie dem politischen Gegner nicht nur den Stinkefinger, wie jüngst im Sejm der PiS-Abgeordnete Piotr Pyzik, sondern beschneiden dessen Möglichkeiten bei der Gestaltung des gesellschaftlichen Bewusstseins. „Helden“ a priori sind „Kämpfer“ für die Unabhängigkeit Polens, selbst dann wenn sie sich dabei Verbrechen schuldig gemacht haben. Soziale Gerechtigkeit, die Beseitigung jedweder Ausbeutung und Unterdrückung – verfochten von Rosa Luxemburg oder Ludwik Warynski – gelten nichts, Standard-„Helden“biographien „wahrhaft“ polnischer Familien beginnen mit dem Urgroßvater, der 1863 kämpfte, dem Vater der Warszawa 1920 gegen „die Russen“ verteidigte und zur illegalen Armia Krajowa gehörte, die gegen „die Deutschen“ kämpfte. Selbst die Biografie Józef Piłsudskis wird so zurecht gestutzt, dass allein und ausschließlich seine (alles andere als lupenreine) Rolle als Verfechter der Unabhängigkeit und Staatsgründer, als Bekämpfer der „Sejmokratie“ zur Sprache kommt.
Die VR Polen gilt in den Sprachregelungen der PiS jüngsten Zuschnitts und Verschnitts als „kommunistische Diktatur und als ein nichtpolnisches Staatswesen“. Vielfältige geschichtspolitische Konsequenzen ergeben sich aus dieser Fälschung historischen Geschehens: Das im kommenden Jahr in Gdańsk zu eröffnende Museum zur Geschichte des zweiten Weltkrieges lässt den Nazikrieg am 1. September 1939 beginnen, aber erst am 4. Juni 1989 enden; der 1. Mai wird zu einer Ehrung all jener, die mit ihrer Arbeit die Größe der polnischen Nation geschaffen hätten; die hochschulpolitische Lehre und akademische Forschung zur Geschichte der polnischen Arbeiterbewegung verschwand vollständig aus dem öffentlichen Leben; Museen zur Geschichte der Arbeiterbewegung wurden in Museen für die Unabhängigkeitskämpfe oder schlicht und einfach in regionale Provinzmuseen umgemodelt, Straßennamen getilgt und durch „zeitgemäße“ ersetzt. Selbst wenn laut Ergebnissen der Meinungsforschung von CBOS (2014) noch knapp 42 Prozent der Befragten überwiegend positive Bewertungen für die VR Polen teilten, ist das Verdikt der derzeit Herrschenden vernichtend.
Dem Absturz der Linksdemokraten auf linksliberale Positionen folgte bislang keine Neugeburt einer handlungsfähigen linksgerichteten Kraft in Polen. „Zur Speerspitze des radikalen Privatisierungsprogramms“ gewandelt, sieht Helena Łuczywo, die gemeinsam mit Adam Michnik und anderen im Mai 1989 die „Gazeta Wyborcza“ gründete, das Ziel ihres Wirkens. Jacek Kuron (2002), ursprünglich gemeinsam mit Michnik angetreten und gemeinsam mit ihm in der VR Polen verfolgt, konstatierte bereits 2002, dass sich die Lage für „die Hälfte der Gesamtbevölkerung Polens, zum Schlechteren gewendet hat“. Erst 2015, mehr als ein Jahrzehnt später, waren die Nationalkonservativen die ersten, die sich nach 1989/90 trauten, nachzählbare Wahlversprechen (unter anderem 500 Złoty monatliche Zulage je Kind) zum Kern ihres Wahlprogramms zu machen, während andere Politiker und Parteien keine rechte Antwort auf die sozialen Angebote haben, die die PiS inzwischen begonnen hat umzusetzen. Die Nationalkonservativen haben ihre Lektion gelernt.
Wie selbstverständlich schreiben sie sich auch die große politische Leistung Roman Dmowskis zu, der vor dem Ausbruch des ersten Weltkrieges zum unumstrittenen Führer der Nationaldemokraten aufstieg. Er pflanzte im bürgerlichen Lager Polens, die auf dem Nationalstaat beruhende Nationalidee ein. Das ethnisch weitgehend einheitliche Polen habe sich den Rücken im Osten frei zu halten, die eigentliche Gefahr für seine nationale Existenz drohe von Seiten Deutschlands. Seine Schriften aus den Jahren vor dem ersten Weltkrieg sind „Schlüsseltexte für das Verständnis des modernen Nationalismus in Polen.“
Im Unterschied zu Józef Piłsudski, Ignacy Daszynski und Rosa Luxemburg verband Dmowski nichts mit der polnischen Arbeiterbewegung. Obwohl Roman Dmowski und seine Nationaldemokraten Vorläufer der heutigen Nationalkonservativen sind, beziehen sich diese im heutigen historischen Alltagsgeschäft eindeutig auf Jozef Piłsudski.
Während Luxemburg und Piłsudski seit den frühen 90er Jahren des 19. Jahrhunderts eng mit der polnischen Arbeiterbewegung im russischen Teil Polens verbunden waren, kommt Ignacy Daszynski, dem prägenden Kopf der polnischen Arbeiterbewegung im zu Österreich gehörenden Galizien, das Verdienst zu, als erster die Initiative für die Gründung einer alle Teile Polens umfassende sozialistische Partei zu gründen. Im Zuge konfrontativer Auseinandersetzungen optierte Rosa Luxemburg für die Arbeiterrevolution. Im engen Schulterschluss zwischen polnischem und russischem Proletariat sah sie das entscheidende Element für deren Schicksal. Politt stellt fest, dass die beiden politischen Höhepunkte der polnischen Arbeiterbewegung im 20. Jahrhundert, die Jahre 1905/06 und 1980/81 waren, in denen „aus Massenkämpfen heraus die politischen Forderungen nach Meinungs-, Versammlungs- und Organisationsfreiheit gestellt wurden“. Die Wiederherstellung Polens, gefordert von einer großen Mehrheit der Arbeiterbewegung des Landes, wurde 1918 Wirklichkeit. Deshalb steht Józef Piłsudski symbolhaft als Schöpfer der Unabhängigkeit für das verflossene Jahrhundert. Lange nach Dmowski Tod, im Ergebnis des zweiten Weltkrieges, hat sich Polen, durch die „Westverschiebung“ von 1944/45 nahezu aller Nationalkonflikte entledigt. Die Gesellschaft „polonisierte“ sich, nicht zuletzt deswegen, weil ausgerechnet das staatsozialistische Polen sich eines Großteils seiner jüdischen Bürger „entledigte“ und andere nationale Kleingruppen „polonisierte“ oder versuchte zu „polonisieren“. Desungeachtet bleibt auch das heutige Polen nicht davon verschont, dass in Europa unterschiedliche Gesellschaften über die Grenzen der Nationalstaaten hinaus, zusammenwachsen.
Kompakt, konstruktiv und klar kann das Buch der beiden Autoren hilfreich sein, sich über das jüngste Jahrhundert polnischer Nationalgeschichte zu informieren, deren Probleme und Perspektiven zu verstehen. Das Glossar, alphabetisch geordnet, erklärt politische Bewegungen und Parteiungen Polens im zurückliegenden Jahrhundert knapp und bündig.
Krzysztof Pilawski / Holger Politt: Polens Rolle rückwärts. Der Aufstieg der Nationalkonservativen und die Perspektiven der Linken, VSA, Hamburg 2016. 176 Seiten, 14,80 Euro.
Schlagwörter: Arbeiterbewegung, Gerd Kaiser, Holger Politt, Krzysztof Pilawski, Nationalkonservative, PiS, Polen