von Wolfgang Brauer
Ja, das ist eine Gratulation. Eine demutsvolle, respekterfüllte. Sie gilt Hermann Kant zum „90.“, dem einstmals Vielgerühmten und nun Fast-nur-noch-Geschmähten.
Letzteres ist kein Alleinstellungsmerkmal Kants. Aber er ist bildlich gesprochen einer der Bäume, an dem sich die Mittelmäßigkeit bevorzugt schubbert. Mit dieser Situation vergleichbar wohl nur noch mit seinem Künstlerverbandspräsidentenkollegen Willi Sitte. Der Grund ist ein schlichter: Kant ist doppelt schuldig zu sprechen. Er ist schuldig zu sprechen für ein erzählerisches Werk, das in der deutschen Literatur auf einzigartige Weise für das vergangene Jahrhundert spricht. Es ist eine Literatur, die auf hohem künstlerischem Niveau von den Robert Iswalls, Jakob Filters und den vielen Veras und den Trullesands erzählt, die sich da anmaßten, die Elite eines Staates bilden zu wollen und keine Ahnung von den „kleinen Propheten“ hatten. Ja, gemeint ist „Die Aula“, jener 1965 erschienene Roman, der unsereinem – ich las das Buch erstmals 1972 – Lust auf das Denken, den Widerspruch und irgendwie auch auf die DDR machte, die nach Ulbrichts Sturz zunehmend geistig erstarrte. Offenbar über die Grenzen des Ländchens hinaus: Zu meinen „Aha-Erlebnissen“ nach dem Mauerfall – zumindest gedruckt tauchte das Wort „Mauer“ übrigens in der DDR-Literatur erstmals in der „Aula“ auf – gehört die Begegnung mit kompletten Klassensätzen dieses Romans in Schulbibliotheken ausgerechnet im stinkbürgerlichen Westberliner Bezirk Steglitz. Damals nahm man Hermann Kant auch im Westen noch ernst. Mit spitzen Fingern wurde allerdings „Der Aufenthalt“ angefasst. Heute wird das Buch gern totgeschwiegen. Es spricht denn doch zu deutlich und zu konkret von deutscher Schuld. Nicht nur Adolf Hitler war’s eben gewesen. Ohne die vielen Mark Niebuhrs hätte der Vernichtungskrieg nicht geführt werden können. Kant steht auch mit diesem Roman immer noch als Solitär im deutschen Literatenwald.
Heute wird bei der Nennung des Namens Hermann Kant oft als erstes Joachim Walthers „Sicherungsbereich Literatur“, dessen sehr individuelle Abrechnung mit der MfS-zersetzten Literaturgesellschaft der DDR, zitiert. Kant kommt im Personenregister auf satte 52 Nachweise, das sind mehr als beim gehassten Klaus Höpcke (43) und beim noch mehr gehassten Erich Honecker (46). Getoppt wird Kant nur noch von Erich Mielke (53) und dem unvergleichlichen Wolf Biermann (80 Verweise!). Letzteres hätte nun wiederum Kant erfinden können …
Damit sind wir bei der zweiten, der wahrhaft alt-testamentarischen Schuld des Hermann Kant. Er nahm ernst, was er da selber schrieb. Dieser mit einem oftmals ätzenden Spott begabte Ironiker glaubte doch wahrhaftig, dass mit diesem Ländchen namens DDR die kleinen Leute Staat machen konnten. Damit dieser Versuch gelang, schmiss er sich mit Verve in die Politik. Denn: „Selbst auf verlorenem Posten kann man für eine edle Sache kämpfen.“ Das stammt aus Irmtraud Gutschkes Interview-Band mit Kant „Die Sache und die Sachen“.
Verlorener Posten? Nein, lieber Kant. „Hier ist niemand tot, und hier ist auch niemand zornig, und hier wird schon noch geredet werden.“ Sie kennen diesen Satz. Es ist der Schlusssatz aus der „Aula“. Die Geschichte geht weiter, und ihre Bücher werden den Lesern noch lange etwas zu sagen haben.
Wir gratulieren!
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