von Renate Hoffmann
Eduard Mörike lässt es flattern und versetzt damit alle Welt in seltsame Stimmungen, die, aus dem vergangenen Jahr wohlbekannt und gewiss im nächsten Jahr wiederkehrend, gegenwärtig als neuartig empfunden werden. Die Sonne steigt und die Gefühle steigen mit. Mensch und Tier befällt eine Unruhe, die zu erstaunlichen Handlungen führt.
Der Specht trommelt nicht – wie es ihm zustünde – an einem Baumstamm, sondern balzt an der Dachrinne, was nämlich, bedingt durch die Lautstärke, sein Ansehen erhöht. – Gärtner entwickeln eine gewisse Unduldsamkeit. „Karl-Hermann, warum beäugelst du jede Stunde die Selleriepflanzen, glaubst du, die wachsen dadurch schneller?“ „Natürlich nicht, Clara, aber kräftiger in meiner Gegenwart!“ – Nachbarn grüßen sich freundlicher über den Zaun, und auf der Straße fliegt zwischen den Fußgängern ein Lächeln hin und her. Von Unbekannt zu Unbekannt. – Liebesspiele werden stürmischer gespielt, und die Mondnächte erhalten Zulauf. Dabei bleibt unbeachtet, dass die Masse des einzigen natürlichen Erdsatelliten mit Hilfe des newtonschen Gravitationsgesetzes zu bestimmen ist.
Die fünf Sinne erfahren ihre Wiederbelebung und lösen das große Staunen aus. Man sieht, dass die Bäume grüne Blätter treiben, was man in den Wintermonaten fast vergessen hatte. Vogelsang dringt ans Ohr und lässt aufhorchen. Denn mitten in der großen Stadt singt auf einem Straßenbaum der Sprosser (das ist so etwas Ähnliches wie eine Nachtigall). Gärten, Wald, Feld und Wiesen verströmen Düfte: die Dichternarzisse (zart und anregend); Bärlauch (zwiebelartig); Himmelschlüssel (lieblich); Veilchen (erotisch) und der gelb wogende Raps (streng und intensiv). Der Tastsinn erfühlt die samtige Beschaffenheit der Kuhschelle im Steingarten. Nun genießt man Frühkartoffeln, garniert mit Feldsalat und lässt den warmen Regen des ersten Maigewitters – ohne Schirm, aber frohen Mutes – über sich ergehen.
Die Frühblüher werden bedichtet. Insbesondere das Veilchen. Der Geheimrat aus Weimar greift danach: „Ein Veilchen auf der Wiese stand, / Gebückt in sich und unbekannt […]“. Das wiederum beflügelt die Musiker. Johann Friedrich Reichardt vertont den Text. Er regt ebenso W.A. Mozart an und Anna Amalia Herzogin von Sachsen-Weimar-Eisenach und Clara Schumann. Versteckt hat sich das bescheidene Pflänzchen auch im Gedicht von Christian Adolph Overbeck „Sehnsucht nach dem Frühling“: „Komm, lieber Mai, und mache / Die Bäume wieder grün, / Und lass mir auf dem Dache / Die kleinen Veilchen blüh’n! […]“. Diese Zeile wurde auf Grund frühlingshaften Überschwangs nicht korrekt wiedergegeben. Wolfgang Amadé vertonte Overbecks Strophen auf so heitere Art, dass sie gleich zum Mitsingen ermuntert, auch außerhalb des Monats Mai.
Ach, dieser Lenz! Dichter und Musiker bemächtigen sich seiner – oder er sich ihrer. Die Komponisten schreiben Frühlingssinfonien, -sonaten, -rauschen. Und sie verbandeln sich mit den Poeten. Felix Mendelssohn-Bartholdy gibt Eichendorffs Sehnsuchtsversen „O Täler weit, o Höhen, / O schöner, grüner Wald […]“ den Klang zurück, der ihnen innewohnt und lässt Heinrich Heines anrührende Poesie der „Frühlingsbotschaft“ in Tönen aufblühen: „Leise zieht durch mein Gemüt / Liebliches Geläute. / Klinge, kleines Frühlingslied, / Kling hinaus ins Weite […]“. Wolken und Frühlingswind erhalten ihre Loblieder.
Ludwig Uhland betont die gesundheitsfördernde Wirkung des Wetters: „Frühling ist´s, ich laß es gelten, / Und mich freut’s, ich muß gestehen, / Daß man kann spazierengehen, / Ohne just sich zu erkälten.“ Friedrich Ratzel sät seiner angebeteten Jugendliebe Louise ein „schöngeschwungenes L“ aus Kresse in den Apothekergarten. Während Joachim Ringelnatz auf seine unverwechselbare Weise den „Frühling hinter Bad Nauheim“ verbringt: „Zwei Eier, ein Brötchen, ein Hut und ein Hund – . / Am Himmel die weiße Watte, / Die ausgezupft / Den Himmel ohne Hintergrund / So ungebildet übertupft, / Erzählt mir, was ich hatte.“ Hermann Hesse schreibt von „der Hingabe an die Wunder des Frühlings“. Über die Maßlosigkeit der Natur in diesen Tagen berichten Bertolt Brecht und Ricarda Huch. Und J.W.G. lässt seinen Werther am 10. Mai jubeln: „Eine wunderbare Heiterkeit hat meine ganze Seele eingenommen, gleich den süßen Frühlingsmorgen, die ich mit ganzem Herzen genieße […]“. (Er hat gut jubeln, denn ihn beflügelt eine neue Liebschaft.)
Die Maler, überwältigt von den frischen Farben, stehen nicht nach. Allen voran Albrecht Dürer mit dem „Veilchenstrauß“, der den ganzen Liebreiz des frühen Jahres in sich birgt. Oder Heinrich Vogeler, der dem Frühling die Gestalt einer jungen Frau im fließenden, himmelblauen Gewand gibt. Vincent van Gogh wartet mit Blütenzweigen vom Mandelbaum auf. Und Claude Monet malt Frühlingsbilder von den Feldern und Wiesen. In Sandro Botticellis „La Primavera“ jedoch finde ich all das vereint, was die Besonderheit dieser Jahreszeit ausmacht: Liebe und Schönheit, leuchtende Farben, die Überfülle der Natur und die Beschwingtheit der Seele.
Der Frühling verzaubert uns eben alle.
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