von Jürgen Brauerhoch
Ein Freund, der geschäftlich oft unterwegs ist, hat mir kürzlich eine ganz unglaubliche Geschichte erzählt. Er sei in aller Herrgottsfrühe in München abgefahren, um am frühen Nachmittag endlich in Berlin zu sein, was noch immer, zwanzig Jahre nach der „Wende“ fast sieben ICE-Stunden dauert, und habe dann ziemlich Seltsames erlebt. Bereits in der Tram zum Hauptbahnhof habe der Fahrer ihm von sich aus ein Stück seiner Butterbrezn angeboten, was er aber, da zu dieser Zeit sein Magen noch geschlossen sei, ablehnen musste.
Am Zug angekommen, wo ihm, da er im Reisecenter seine Laufunlust erwähnt hatte, im allerersten Wagen ein Fensterplatz reserviert worden war, habe ihn die nicht mehr ganz junge, aber „gut gebaute“ (wie er es nannte) Zugbegleiterin in die Arme genommen und nach turkmenisch-usbekischer Sitte rechts und links auf die Wange geküsst, untergehakt und sanft zu seinem Platz geleitet.
Verblüfft ob dieses ungewöhnlich liebevollen Empfangs sei er geradezu baff erstaunt gewesen, auf dem Tisch vor seinem Sitz bereits einen Becher dampfend frischen Kaffees vorzufinden. Die Zugbegleiterin, wegen dieser sensationellen Liebenswürdigkeit zur Rede gestellt, erklärte ihm in einem irgendwie erotisch gefärbten Deutsch (sie kam, wie sich später herausstellte, aus der Ukraine), dass die Deutsche Bahn AG zur Zeit eine „Verwöhnoffensive“ durchführe und diese Begrüßung ein Teil des Programms sei.
Einerseits gerührt, andererseits etwas verstört habe er dann nicht – wie üblich – seine Zeitung aufgeschlagen, zumal sein Gegenüber seine Thermosflasche geradezu aggressiv auf den Tisch zwischen ihnen gestellt und leider auch geöffnet habe, wo er doch den Geruch von Pfefferminze seit seinen Verhandlungen in Casablanca nicht mehr ertragen könne.
So sei er, allmählich doch hungrig, an der verführerisch lächelnden Zugbegleiterin vorbei, in den Speisewagen gegangen und habe ein Frühstück „Boulevard“ bestellt. Eine schon etwas ältere Dame habe ihm dort erklärt: „Wennse e bisschen warten, in Ingolstadt kriechen mer frische Breedchen!“ Das unverkennbar sächsische Idiom sei ihm eine Beruhigung gewesen, da er wusste, dass dieser Volksstamm als höflich und hilfsbereit gilt. Und tatsächlich stand dann sein Frühstück noch vor Nürnberg auf dem Tisch.
Inzwischen hatte sich die Welt hinterm Zugfenster ziemlich verwandelt; aus Feldern, Hügeln und kleinen Ortschaften war tiefer Wald geworden. Während er sich erinnerte, durch diesen dichten Thüringer Wald bereits mit seinem Vater gewandert zu sein, war ihm plötzlich bewusst geworden, dass der Pfefferminzheini ausgestiegen und sein Gegenüber jetzt die attraktive Zugbegleiterin war.
Sie hatte geduldig gewartet, bis seine verklärten Züge einer realen Sicht der Dinge gewichen waren und sprach: „Darf ich Sie im Hinblick auf das Mittagessen gastropsychologisch beraten?“ Nach dem ersten Erstaunen über diese weitgehende Fürsorge habe er ihr aber zu verstehen gegeben, dass er einer „Food consultant“, wie sie selbst sich nannte, derzeit nicht bedürfe und lieber ein paar Auskünfte über die Gegend hätte, durch die sie gerade führen.
„Kein Problem, mein Herr“, sagte die Zugberaterin, „da schicke ich ihnen unseren round-up-consultant vorbei, der kennt sich aus. Dieser „round-up-consultant“, was man schlecht und recht mit „Rundumberater“ hätte übersetzen können, sei dann ein so unansehnlicher, mittelblond-sommer-sprossiger Jüngling gewesen, dass er schon bedauerte, sich nicht doch lieber von der appetitlicheren Zugbegleiterin über das Mittagessen habe aufklären lassen. Aber nun sei der „Roundie“, wie er ihn für sich nannte, erwartungsvoll ihm gegenüber gesessen und hatte seinen Laptop bereits aufgeklappt. Um ihn wieder loszuwerden, hatte er die etwas dümmliche Frage gestellt: „Wo sind wir eigentlich hier?“
Der, wie es schien, Azubi habe sich aber nichts anmerken lassen und professionell gelassen etwas in seinen Computer getippt und ihm dann mitgeteilt: „Wir befinden uns kurz vor Probstzella, der ehemaligen Endstation aller Züge seinerzeit in der Deutschen Demokratischen Republik. Hier teilte Deutschland die unüberwindbare ‚Staatsgrenze West‘, die in der sogenannten ‚freien Welt‘ anfangs ‚Eiserner Vorhang‘, später ‚Todesstreifen‘ genannt wurde. Soll ich Ihnen den Text ausdrucken?“
Zum Glück sei dann seine Zugbegleiterin hüftschwenkend vorbeigekommen und habe ihn erneut nach seinen Essenswünschen befragt, so dass er den beflissenen Informatiker mit „Danke, nicht nötig“ hatte loswerden können. Die Zugbegleiterin hatte ihm die Speisekarte mitgebracht. Früher, meinte sie, habe es im Osten viel deftigere Gerichte gegeben, zum Glück habe wenigstens die „Soljanka“ den Umsturz, zumindest bei der Mitropa überlebt. „Und der Rotkäppchensekt!“, ergänzte er und sie waren sich einig, dass die guten alten DDR-Marken nicht mehr das seien, was sie einmal waren, seit sie die Westkonzerne übernommen (sie sagte „kassiert“) hätten.
Bei leicht schunkelnder Fahrt durch das Saaletal sei ihm dann das schöne Volkslied
An der Saale hellem Strande,
stehen Burgen stolz und kühn,
ihre Mauern sind verfallen
und der Wind pfeift durch die Hallen,
Wolken ziehen drüber hin…
durch den Kopf gegangen. Er nahm sich vor, bei nächster Gelegenheit die Melodie wie den originellen Text seiner ihm angetrauten Musikpädagogin für den Elementarunterricht zu empfehlen.
Inzwischen rollte der Zug durch die unendliche Pampa zwischen Merseburg und Jüterbog und die Zugbegleiterin hatte sich anderen Fahrgästen zugewandt. Etwas hungrig geworden, habe er dann doch beschlossen, dem Speisewagen einen Besuch abzustatten.
Die offensive Verwöhnkarte habe ihn dann in größtes Erstaunen versetzt. Unter der Überschrift „Welches Glückserlebnis erwarten Sie von Ihrem Mittagsmahl?“ seien nicht wie üblich die erfahrungsgemäß einfältigen Gerichte aufgelistet gewesen, sondern die Wirkung, die irgendeine, bahn- oder auch nicht bahneigene psychologische Beratungsstelle versprechen zu müssen glaubte… so zum Beispiel unter der Frage „Haben Sie die nouvelle cuisine satt und würden jetzt am liebsten Ihre ältesten Klamotten zum Holzhacken vor der Stalltüre anziehen …“ (so genau wusste er es nicht mehr, aber so ähnlich!) sei gestanden: „Westfälische Knochensülze mit Bratkartoffeln“. Und unter dem Aufhänger: „Wären Sie jetzt lieber der große Verführer sich zierender, aber innerlich wilder Spanierinnen statt im ICE dahinzudämmern?“ wurde ein TOAST Carmen empfohlen…
In diesem Moment sei mein Freund sprachlos gewesen und habe etwas kleinlaut das ebenfalls verbal hübsch garnierte „Lilo-Pulver-Geschnetzelte“ bestellt. Inzwischen hatte ein Herr ihm gegenüber Platz genommen, der ihn irgendwie an das Neue Testament oder Martin Luther oder beides erinnerte und tatsächlich hastig seine Sülze verzehrt, weil er, wie er bemerkte, „natürlich“ in Wittenberg aussteigen müsse. Er wünschte dem ganzen Speisewagen „Guten Appetit im Namen der Evangelischen Kirche und der Lutherstadt Wittenberg“, aber das „Amen“ sei bereits in der Lautsprecherdurchsage untergegangen, worauf der Wagen verdunkelt worden und auf einer Riesenleinwand das Brandenburger Tor erschienen sei. Eine nicht lokalisierbare weibliche Stimme habe dann gefragt, ob sie die werten Reisenden etwas näher mit dem Ziel ihrer Reise, der endlich wieder gesamtdeutschen Hauptstadt Berlin bekannt machen dürfe, aber offensichtlich keine Antwort erwartet. Es kamen dann die hochgebeamten, bahnhofsnahen Sehenswürdigkeiten in Text und Bild wie der koreanische Zigarettenschwarzmarkt am Ostbahnhof, die Türkenkneipen in Kreuzberg, die Schwulen- und Lesbencafés am Prenzlauer Berg, aber auch der Reichstag oder das teure Lafayette in der Friedrichsstraße auf die Leinwand. Am Schluss gab es für alle Gäste noch eine Sonderausgabe der Berliner Morgenpost, obwohl es bereits Nachmittag war und der Zug sich an vielen Fabrikschornsteinen vorbei der Endstation näherte.
„Teufel auch …“, sagte mein Freund, selbst dort habe ihn noch eine Überraschung erwartet. Nichts ahnend ausgestiegen, sei ein Sandwichgirl am Bahnsteig entlang gehüpft, das vor ihrem nur knapp bekleideten Busen eine Tafel hin und hergeschwenkt habe mit dem Text: „Herr Dr. Modrow wird an der Kutsche erwartet“.
„Verrückt, oder? Das war ja ich!“
„Ein neuer Service der Bahn“, begrüßte ihn das Girli und begleitete ihn beschwingt zum Ausgang, wo tatsächlich ein mit Berliner Bären und bunten Fähnchen geschmückter Zweispanner stand.
„Ist das nicht alles unglaublich?“
Ich musste ihm beipflichten.
„Leider war es nur ein Traum“, sagte er.
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