19. Jahrgang | Nummer 6 | 14. März 2016

Querbeet (LXX)

von Reinhard Wengierek

Meine Fundstücke im Kunstgestrüpp: Diesmal ein Fettwanst, der mit Stalin telefoniert, ein Lügenbold, der durch die Welt stromert…

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Das frühe Sowjetrussland unter Stalin: Arbeitslosigkeit, Armut sowie die rote Propaganda von der goldenen Zukunft quälen die Leute. Semjon hat das alles so satt, sein armseliges Proletenleben in der engen Bruchbude zusammen mit Eheweib, Schwiegermutter und aufdringlichen Nachbarn. Nicht mal mehr die über alles geliebte Leberwurst kriegt der vom Dasein angeekelte Dickwanst. Und auch sein Traum, ausgerechnet mit einer Tuba als Musiker zu Ruhm und Rubel zu kommen, ging schnell kaputt.
So will er Schluss machen und sich erschießen, was sich in Windeseile herumspricht. Schnell kommt die Nachbarschaft zusammen und meint: Wenn schon Selbstmord, dann für eine große Sache: für den Kommunismus, für die Religion, für die Liebe, so etwa… Man will ein Opfer, das „als Leiche“ der Staatsmacht endlich mal kräftig den Stinkefinger zeigt: „Wenn schon Umbringen, dann geben Sie wenigstens jemandem die Schuld!“ – Semjon, der tumbe Tor, lässt sich drauf ein. Dafür spendiert man ihm eine süffige Abschiedsparty mit ordentlich Leberwurst. Doch im entscheidenden Moment fällt kein Schuss! Semjon, die fette Frustbeule, erwacht wie vom Schlag der Erkenntnis getroffen aus seiner Rolle als Opferlamm und hält eine unerhörte Rede: „Genossen, ich will nicht sterben: nicht für euch, nicht für die andern, nicht für die Klasse, nicht für die Menschheit, nicht für meine Frau. Im Leben könnt ihr mir alle lieb, nahe, verwandt sein. Angesichts des Todes aber, was kann mir da lieber, näher, verwandter sein als meine Hand, mein Bein, mein Bauch? Ich bin verliebt in meinen Bauch…“ – Aus dem duckmäuserischen Massemenschen wurde angesichts des Todes ein radikaler Ich-Sager, ein lebenspralles Individuum, das der Scheiß-Welt die Zunge heraussteckt.
Was für eine Farce, die der russische Satiriker Nikolai Erdman (1900-1970) anno 1928 schrieb; lakonischer Titel: „Der Selbstmörder“. Seine bis ins Absurde getriebene Geschichte vom Spießer Semjon (Georgius Tsivanoglou), der frech Frau (Hanna Jürgens) und Schwiegermama (Carmen-Maja Antoni) tyrannisiert und weinerlich vom Selbstmord faselt, um ihm schließlich eine Nase zu drehen, die bringt das ganze politisch-soziale Sowjet-Elend sowie alles Ewigmenschliche aus Hybris, Verlogenheit und Daseinsangst in eins und auf den abgründig bösen, auch heute gültigen Punkt.
Klar, dass die philosophisch grundierte Polit-Psycho-Chose prompt verboten, ihr Autor verhaftet und alsbald verbannt wurde (berühmte Kollegen wie Gorki, Stanislawski, Meyerhold konnten dem genialen Schreiber nicht helfen). Erst nach Erdmans Tod 1970 kam sein „Selbstmörder“ auf die Bühne und alsbald ins Repertoire des Welttheaters. Und jetzt wieder, nach langer Zeit, ins Berliner Ensemble – Manfred Wekwerth inszenierte ihn 1989 als DDR-Antwort auf die hier verweigerte Perestroika.
Diesmal führt der erklärte Liebling des französischen Theaters Jean Bellorni Regie. Der junge Mann (34) aus Paris, Chef des Théatre Gérard Philipe in Saint-Denis, ist für Berlin eine Entdeckung und ein Gewinn, weil er, pointiert gesagt, ziemlich aus der deutschen Art schlägt. Dem Regisseur, Bühnenbildner und Musiker ist nämlich das hiesige so genannte Regisseurstheater eher fremd. Er setzt vielmehr aufs stringente, dabei leichte, einfühlsame, fein spielerische Erzählen, ohne dabei auf (hier angesagt) grelle Momente grotesker Zuspitzung zu verzichten. Der Gipfel: Semjons wutschnaubendes, vom Wodka befeuertes Telefonat mit dem Kreml, in dem er die allmächtige Parteispitze donnernd zusammenscheißt.
Doch solche „Nummern“ bleiben bei Bellorini eingewoben ins fantastische Tableau einer grandiosen, zwischen Witz und Tragik jonglierenden Gesellschaftssatire, für die der Regisseur auch das vertrackt irrgartenmäßige (ein Wirrwarr von Treppen), fantastisch illuminierte und überraschend verwandlungsfähige Bühnenbild konstruierte. Und die er aufwändig anreichert mit köstlich komischen, schwermütig seufzenden, zotigen und schenkelklopfend lustigen Musikeinlagen. Eine Partitur aus Melancholie und Raserei, die den Stücktext (Übersetzung: Thomas Reschke) effektvoll verstärkt – nicht zuletzt auch durch das gekonnt geführte, glänzend aufgelegte BE-Komiker-und-Clowns-Ensemble, das bei aller angesagt kabarettistischen Drastik doch immerzu mit einem Quantum komödiantischen Charmes agiert. Vielleicht die elegante französische Art und Aura, die Bellorini ausstrahlt, dessen Regiekunst ohne das zudringlich Plakative, eitel Kommentierende, das brutal Zerstörerische, Verfremdende, An- und Umbauende auskommt und selbst im Extremen, Harten, Hässlichen und Abgründigen noch das imaginär Schöne (romantisch gesagt: Herzensschöne) leise grüßt. Und damit groß Wirkung macht – fürs raue rohe Berlin eine verblüffende, bewundernswerte Erfahrung. Und ziemlich neu; es sei denn, man denkt zurück an die Subtilitäten eines Luc Bondy.

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„Geh außen rum, Peer!“ Was für ein prima Ratschlag, denkt der. Und geht denn auch weit, weit nach draußen, stürzt gar einmal um die ganze Welt, immer auf der Flucht vor sich selbst und doch egomanisch wie kein anderer. Wie Doktor Faust bei Goethe verzweifelt nach Sinn und rücksichtslos nach Identität suchend durch Traum- und Wirklichkeitswelten rast, so tut das auch der arme Bauernlümmel Peer Gynt, ein Draufgänger, Verführer, Brauträuber, ein Lügenbold, Zaubermeister, Menschenschinder, Prophet in der Wüste und Kaiser im Irrenhaus – in Henrik Ibsens dramatischem Gedicht „Peer Gynt“, das ursprünglich gedacht war als gigantisches Lesedrama. Anno 1971 bei weiland Peter Stein an der Schaubühne dauerte die opernhafte Saga zwei Tage lang; jetzt in Berlin, in den Kammerspielen des Deutschen Theaters, hat Regisseur Ivan Penteleev diesen „nordischen Faust“ auf 100 Minuten eingedampft.
Ibsens monumentaler Breitwand-Illusionismus, sein von Massen bevölkertes Figurenpanorama auf ein paar Schnappschüsse reduziert für zwei Schauspieler, die gerade mal noch zwei Dutzend Seiten Text haben. Da ist alles Irrlichternde, Rätselhafte und Wundersame, alles Schauerliche und Schöne, aller Saft und alle Kraft, Raserei, Tollerei eliminiert. Eine strenge Reduktion auf Sentenzen. Auf Pessimismus, Beckettsche Leere, Vergeblichkeit und Endzeitstimmung. Auf das Nichts, auf das man stößt beim Schälen einer Zwiebel. Da nämlich ist kein Kern, wie auch bei Peer keiner ist. Keine Mitte, keine Identität und letztlich kein Sinn. Das alles auf ein paar Seiten rabenschwarzer Ibsen-Rest im finsteren Bühnenloch. Dafür aber wenigstens knapp zwei Stunden gute Schule der Sprechkunst mit Margit Bendokat (faszinierend eisige Lakonie) und Samuel Finzi (im undankbaren Modus keuchender Dauerdepression). Für einschlägige Genüssler womöglich eine Rarität; obgleich man beide Stars liebend gern in profunderen Rollen erlebt hätte. Ansonsten: Zu wenig Ibsen für einen Ibsen-Abend.