19. Jahrgang | Nummer 5 | 29. Februar 2016

Der Fall Jünemann

von Frank-Rainer Schurich

Dass Otto Jünemann bei seiner Schwägerin Charlotte Jünemann in der Weinstraße 27 am Berliner Friedrichshain nach dem Rechten sehen wollte, hatte verschiedene Gründe. Einmal waren sie zerstritten, weil er ihr vor Weihnachten 1934 wegen ihres Lebenswandels heftige Vorhaltungen machte. Ende Januar erfuhr er dann aber noch Schlimmeres, dass sich nämlich Charlotte in Kneipen herumtreibe und ihren Ehemann, der sich in der Anstalt Herzberge befand, auch nicht mehr besuche. Der Schwager nahm an, dass die Kinder schon längst im Heim waren, wie es ihm eine Fürsorgerin einmal in Aussicht gestellt hatte. Aber er wollte am 3. Februar 1935 noch einmal nachsehen, nachdem er die Tage zuvor zweimal dort war. Bernhard antwortete nur, die Mutter sei in der Küche. Aber Otto Jünemann wurde nicht hineingelassen.
Vom Hofe sah er nun an diesem 3. Februar durch ein geschlossenes Fenster der Kellerwohnung und bemerkte das älteste Kind Bernhard (dreieinhalb Jahre), das umhertaumelte. Otto Jünemann schlug das Fenster ein und stieg in die Wohnung. Bernhard kam ihm mit schlotternden Beinen entgegen, die beiden anderen Kinder Inge (vier Monate) und Wolfgang (eindreiviertel Jahre) fand er nur noch tot in ihren Betten. Bernhard starb ein paar Tage später im Krankenhaus Friedrichshain, das zu dieser Zeit Horst-Wessel-Krankenhaus hieß.
Die Wohnung befand sich in einem verwahrlosten Zustand. Die Betten der Kinder waren unbezogen und beschmutzt, die Unterlagen der beiden kleinen Kinder waren von vertrocknetem Kot und Urin überhäuft. Überall nur Dreck, Unrat und Schimmel. Auch ein mit vertrocknetem Kot über die Hälfte gefülltes Nachtgeschirr stand in der Küche. In der Wohnung war es eiskalt.
Die Gerichtsmediziner stellten Tod durch Verhungern und Verdursten fest. Nun wurde nach Charlotte gefahndet, aber sie stellte sich am 5. Februar beim für ihre Wohnung zuständigen Polizeirevier. Sie hatte ein Verhältnis mit einem vier Jahre jüngeren Mann, bei dem sie übernachtete. Seine Mutter schlief in dem einen Zimmer, während sich Charlotte und ihr Liebhaber vergnügten. Die Kinder waren ihr egal. Die Stütze von der „Nationalsozialistischen Volkswohlfahrt“ (NSV) brauchte sie großzügig für ihre Kneipenvergnügungen und für ihren Freund auf.
Die Nazi-Presse überschlug sich während des Ermittlungsverfahrens gegen Charlotte Jünemann und der Verhandlungen des Schwurgerichts II beim Landgericht Berlin vom 26. bis zum 30. März 1935. In der Vernehmung am 6. Februar 1935 wurde sie gefragt, ob sie nicht ein Verhältnis mit einem Neger hatte. Ihre Antwort war: „Nein. Am 31. Januar 1935, als ich mir die fraglichen Karten von der NSV abholen wollte, rutschte ich durch die Glätte auf der Straße kurz vor der NSV, Georgenkirchstraße, aus. Der mir dahin unbekannte Schwarze fing mich auf, so dass ich nicht zu Fall kam.“
Am 26. März 1935, also während des Prozesses, erschien in der Gauzeitung der Berliner NSDAP Der Angriff unter der Überschrift „Neger als ‚Beschützer‘“ die folgende Notiz: „Über die moralischen Qualitäten der J. unterrichtet auch folgender Vorfall: am 31. Januar holte sie sich Lebensmittel von der NSV. Hier machte sie die Bekanntschaft eines neuen ‚Beschützers‘, eines Negers, der in Berliner Varietés als Feuerfresser auftrat, jedoch damals ohne Arbeit war. Mit diesem Neger suchte sie eine Gastwirtschaft auf und später, wie ein Zeuge beobachtet haben will, auch ihre Wohnung.“ Dieser Zeuge hatte, wie sich später herausstellte, gelogen, aber dass Charlotte Jünemann mit einem Neger geschlechtlich verkehrt haben soll, passte natürlich gut in das damalige rassistische Weltbild und zur moralischen Vorverurteilung der Kindesmörderin.
Sogar der berühmte und erfolgreiche Kommissar Ernst Gennat, den die Kollegen wegen seiner Leibesfülle „Buddha der Kriminalisten“ nannten und der heute einfach nur „Der Kommissar vom Alexanderplatz“ ist, vernahm Charlotte Jünemann am 7. Februar 1935.
Nach dem Auffinden der Kinder und der Verhaftung von Charlotte Jünemann war der Berliner Kindesmord durch Presseveröffentlichungen in ganz Deutschland in aller Munde. So verwundert es nicht, dass aus dem Schwabenland ein anonymes Schreiben vom 7. Februar 1935 beim „Polizeiamt“ in Berlin eintraf mit folgendem Wortlaut: „Möchte Sie nur bitten, des Weibsbild, des ihre drei Kinder hot verhungern lasse, nicht mehr lebendig raus zu lassen aus dem Zuchthaus; dieses Luder ghört aufbloßet u. verhopst oder aufknüpft. Wen ich in Berlin wär, ich dät dera Dinge alle Hoor rausreißa, am genze Ranza rum. J hau doch au 7 Kinder aufzoga, u. mir hot kein Teufel ebbes geba derzu, da mals hats noch kein Winterhilf geba. Eine Frau vom Schwobaländle.“ Ein Brief, der im Landesarchiv Berlin aufgehoben ist, und zwar in der Gennatschen „Zentralkartei für Mordsachen und Lehrmittelsammlung“.
Charlotte Jünemann wurde wegen Mordes zum Tode verurteilt. „Da die Familie die kleinste Zelle der Volksgemeinschaft bildet“, heißt es im Urteil, „hat die Angeklagte auch lebenswichtige Interessen der Volksgemeinschaft verletzt. Wer sich, wie die Angeklagte gegen die Volksgemeinschaft versündigt, handelt ehrlos.“
Der 2. Strafsenat des Reichsgerichts in Leipzig entschied ebenfalls gegen die dreifache Kindesmörderin. Charlotte Jünemann machte in dieser Verhandlung mit der Revision geltend, dass nicht vorsätzlicher und mit Überlegung begangener Mord, sondern eine reine Triebhandlung vorliege, weshalb sie nicht zum Tode verurteilt werden könne. Dieser Argumentation folgte das Gericht nicht, wodurch das Todesurteil Bestand hatte. Hitler lehnte ihr Gnadengesuch ab. Im Morgengrauen des 27. August 1935 wurde Charlotte Jünemann durch Scharfrichter Gröpler aus Magdeburg auf dem Hof des Strafgefängnisses Berlin-Plötzensee geköpft. Danach beförderte Gröpler den Berliner Raubmörder Willy Gehrke vom Leben zum Tode.
Willy Gehrke und Charlotte Jünemann wurden auf dem Parkfriedhof in Berlin-Marzahn als „NS-Opfer“ beerdigt. Auf dem Gedenkstein lesen wir: „46 Menschen starben damit wir leben.“