19. Jahrgang | Nummer 1 | 4. Januar 2016

Faschismusanalysen ohne Dogma

von Mario Keßler

Der Hannoveraner Politikwissenschaftler und Zeithistoriker Gert Schäfer (1941-2012) hinterließ neben einer Reihe sehr lesenswerter Bücher eine Vielzahl von bislang ungedruckten Manuskripten. Daraus hat sein Freund und Mitstreiter Peter Schyga unter Mitarbeit von Detlef Hörster eine Auswahl zusammengestellt, deren Überschrift auf zentrale Gebiete von Schäfers Wirken hinweist: „Gewalt und Politik. Studien zu Nationalsozialismus und totaler Herrschaft“.
Die Textsammlung enthält eine Arbeit, die Schäfer noch als Student schrieb, einen Vortrag des jungen Assistenten in Berlin sowie eine Reihe von Vorlesungstexten des Professors für Politische Wissenschaft, der auch als Vizepräsident der Universität Hannover, als Dekan und Institutsdirektor wissenschaftliches Ansehen gewann.
„Trotzkis Faschismusanalyse – der Faschismus als Alternative einer proletarischen Revolution“ entstand in einem Frankfurter Hauptseminar von Iring Fetscher, dem von ihm lebenslang verehrtem Doktorvater Gert Schäfers. In diesem Text würdigte Schäfer Trotzkis marxistische Interpretation des Faschismus, die nicht schematisch ökonomische Zielstellungen der Handelnden zugrunde legte, sondern diese mit der Untersuchung politischer und psychologischer Interessen verband. Eine solche Analyse zielte auf antifaschistische Gegenstrategien im Sinne einer Einheitsfront der Arbeiterparteien. Sie sei, so Schäfer, schon vor 1933 fruchtbringender als alle personalistischen oder totalitarismus-theoretischen Deutungen des Faschismus gewesen. Trotzki habe die Krise der bürgerlichen Gesellschaft und die Krise der Arbeiterbewegung als zwei Produkte der imperialistischen Barbarisierung der Gesellschaft seit 1914 in ihren Zusammenhängen begriffen. Aus beiden, miteinander verbundenen Krisenlagen könne, so Trotzkis Warnung, derjenige Profit schlagen, der als Führer neuen Typs die Rebellion des verarmten Mittelstandes vom antikapitalistischen Klassenkampf weg zum Kampf gegen einen Sündenbock lenke (der oft „der Jude“ war). Im Gegensatz zu vielen Sozialdemokraten und Kommunisten, aber auch zu bürgerlichen Antifaschisten, habe Trotzki Hitler nicht unterschätzt, weil er genau und sehr früh diese spezifische „Mission“ des faschistischen Politikers erkannt und entschleiert habe.
Nicht weniger überzeugend liest sich der Vortrag über „Das Ende von Weimar“. Das demokratische Bürgertum habe sich als politische Kraft selbst ausgelöscht, „als sich die maßgeblichen Vertreter des Bürgertums entschlossen, die Weltwirtschaftskrise zu benutzen, um eine innen- und außenpolitische Wende herbeizuführen, nämlich die Fesseln des Versailler Friedens abzuwerfen und das ausdrückliche Bündnis mit der Sozialdemokratie zu liquidieren, einen – wie es damals hieß – autoritären Staat zu errichten, die parlamentarische Demokratie und die Soziallasten – den Sozialstaat, wie man heute wohl zu sagen pflegt – zu beseitigen.“ Ohne einer verkürzten Sichtweise vom Kapital als bloßem Steigbügelhalter Hitlers zu huldigen, zeigte Schäfer doch die wachsende Übereinstimmung der Interessen der Nazis mit denen der politisch entschlossensten Teile des Großkapitals. Für jene Teile war Hitler nicht die erste, aber die letzte Wahl. Auf sie setzte man schließlich bedenkenlos, um die Arbeiterbewegung wie die Weimarer Republik zu zerschlagen, standen beide doch dem zweiten Griff nach der Weltmacht im Wege.
Zielstrebig verfolgte Schäfer diesen Ansatz weiter, so in der Übersetzung und Herausgabe von Franz Neumanns „Behemoth“, dem wichtigsten Werk über die Struktur des faschistischen Staates, das im Exil geschrieben wurde. Den gleichen Intentionen lagen weitere Arbeiten Schäfers, so über Arthur Rosenberg und Fritz Sternberg, zugrunde. Er entdeckte den fast völlig vergessenen Arbeiter-Intellektuellen Kurt Stechert wieder, der in Schweden wichtige Bücher zur Expansionspolitik des deutschen Imperialismus und Militarismus geschrieben hatte.
Schäfers Forschungen lagen auch den Vorlesungstexten über „Formen politischer Herrschaft“ aus den Jahren 1981 und 1982 zugrunde, die hier erstmals abgedruckt sind. Ihr Inhalt ist zu vielgestaltig, um auch nur ansatzweise referiert zu werden. Es ging Schäfer um die Prämissen imperialistischer Aggressionspolitik – wirtschaftliche Expansion, ideologische Feinderklärung an die Werte der Aufklärung, Rassismus und Gewaltkult – als notwendigen, wenngleich nicht hinreichenden Voraussetzungen des Erfolges faschistischer Bewegungen. Hinzu musste die Fähigkeit der Faschisten treten, breite Massen vom Veralten „bürgerlich“-rechtsstaatlicher Normen in politischen Kämpfen zu überzeugen, während zugleich die (Pseudo-)Normen nach Erlangung der Macht willkürlich neu gesetzt und kodifiziert wurden. Nur ein solcher „Doppelstaat“ (Ernst Fraenkel) sichere die Gefolgschaft der Massen, konnten diese doch so von der Legalität wie der Legitimität faschistischer Gewaltherrschaft überzeugt werden.
Eine solche Deutung stand jeder einlinigen Totalitarismus-Deutung entgegen, die Schäfer trotzdem Ernst nahm und deren empirische Ergebnisse zur Machtstruktur faschistischer Regime er kritisch würdigte. Einige Theoretiker des Totalitarismus hätten auch mit als erste den Blick auf massenwirksame Elemente faschistischer Macht gelenkt – auf die geschickte Übernahme politischer Symbole, die die Faschisten der Linken entwinden konnten. Deshalb hatte Schäfer auch stets Hannah Arendt im Blick, deren politisches Denken nicht auf Antikommunismus zu reduzieren sei. Vielmehr legten ihre Untersuchungen zum Antisemitismus und zum Imperialismus auch Mechanismen der Unterdrückung bloß, die jeder studieren solle, dem es um die Beseitigung solcher Unterdrückung gehe. Diese Gedanken führte Schäfer in einer Vorlesungsreihe im Sommersemester 1993 aus, die den dritten Teil des Buches bildet.
Die von Peter Schyga sorgfältig edierten Texte zeigen die Bandbreite von Schäfers Interessen. Sie geben auch Einblicke in die Art seiner Argumentationsweise. Schäfers Vortrags- wie Schreibstil war diskursiv und von der Neugier auf Gegenargumente geprägt. Er versuchte den Studenten zu vermitteln, dass die Klärung politischer Kategorien unerlässlich für analytisches Denken ist, dass aber die Ordnung der Fakten nichts gemein hat mit einer schematischen Kategorisierung. Vielmehr gelte es, den hinter den Fakten oft verborgenen Interessen wie auch den Traditionen, mentalen Dispositionen und anderen Imponderabilien von Individuen, Gruppen und Klassen nachzuspüren. Der Band gibt somit, soweit schriftliche Texte dies vermögen, auch Hinweise auf Gert Schäfers Persönlichkeit. Der politisch wie menschlich sensitive Denker und Forscher, tolerant und prinzipienfest zugleich war dem Rezensenten ein stets verlässlicher Freund. Gert Schäfer verdient es, gelesen zu werden. Die Anregungen und Ideen, die er uns gab, sind noch längst nicht abgegolten.

Gert Schäfer: Gewalt und Politik. Studien zu Nationalsozialismus und totaler Herrschaft, Edition Gert Schäfer im Nomos-Verlag, Baden-Baden 2014, 446 Seiten, 52,00 Euro.