18. Jahrgang | Nummer 26 | 21. Dezember 2015

Nekrologe 2015

von F.-B. Habel

Ein Jahr geht zu Ende, an dessen Anfang noch Menschen unter uns waren, die uns verlassen haben. Man wird erstaunt sein, welche Künstler, einst gefeiert und geehrt, nun fehlen, ohne dass die Öffentlichkeit größere Notiz davon nahm. Leider trifft es besonders diejenigen, die in der DDR bekannt waren. An einige soll hier erinnert werden.
Im Ferienprogramm wird sicherlich auch das DEFA-Märchen „Der Prinz hinter den sieben Meeren“ von 1981 wieder gezeigt. Darin kann man sich über den herrlich komischen Elegius amüsieren. Ihn gestaltete der Berliner Tim Hoffmann, der 1943 zur Welt kam. Obwohl beide Eltern Schauspieler waren (der Vater A.P. Hoffmann spielte beispielsweise alternierend mit Winterstein den „Nathan“ am Deutschen Theater), arbeitete Tim zunächst als Requisiteur. Als er in einem Stück die Requisiten für Klaus Piontek bereithalten musste, war er von dessen Spiel so fasziniert, dass er versuchen wollte, es ihm gleichzutun. Nach der Schauspielschule ging er ans Maxim Gorki Theater, dessen Ensemblemitglied er 43 Jahre (!) blieb. Besonders den kleinen, oft komischen Rollen konnte er markantes Profil verleihen. Öfter als im Kinofilm spielte er im Fernsehen. Schon in seinem ersten Fernsehspiel „Es war nicht der Eismann“ (1964) sah man ihn an der Seite seiner Eltern A.P. Hoffmann und Gaby Jäh. Hoffmanns Mutter, geboren 1912, stand in den sechziger und siebziger Jahren beispielsweise in den Reihen „Blaulicht“, „Polizeiruf 110“ und „Der Staatsanwalt hat das Wort“ vor der Kamera. Tim Hoffmann, dessen Tochter Danne Hoffmann aus der Verbindung mit Uta Schorn in Halle Theater spielt, wohnte im selben Haus wie seine Mutter und betreute sie, selbst krebskrank, liebevoll. Als er am 31. Januar starb, überlebte ihn die alte Dame nur um Wochen.
„Wunderbar“ nannte Manfred Krug seine Partnerin Cipe Lincovski, mit der er 1959 in der Westberliner Kongresshalle das Stück „Ich selbst und kein Engel – Chronik aus dem Warschauer Ghetto“ aufführte, und vermerkt in seinem „MK Bilderbuch“: „Diese Schauspielerin war am Jüdischen Theater in Buenos Aires engagiert und sprach jiddisch, aber auch deutsch.“ Sie lebte eine Zeitlang in Berlin, arbeitete am Berliner Ensemble und spielte 1961 im Adlershofer Fernsehen die Titelrolle in „Die heilige Johanna von Amerika“ ihres argentinischen Landsmannes Andrés Lizarraga. In den siebziger Jahren von der Antikommunistischen Allianz Argentiniens verfolgt, ging sie ins spanische Exil. Nach ihrer gefeierten Rückkehr spielte sie große Rollen, darunter Brechts Mutter Courage, und gastierte mit einem Brecht-Programm 1998 auch in Israel. Jeanine Meerapfel holte sie für eine Rolle in dem Film „Der deutsche Freund“ 2012 ein letztes Mal vor die Kamera. Im August ist Cipe Lincovski drei Wochen vor ihrem 86. Geburtstag in Buenos Aires gestorben.
Die jährliche MDR-Gedenksendung „Abschied ist ein leises Wort“ wirkte besonders durch die Stimme des Sprechers Hans Teuscher. 2013 ließ er sich krankheitshalber von Otto Mellies vertreten, 2014 sprach er wieder selbst. Man hoffte, er hätte seine Krankheit überstanden. Im Oktober dieses Jahres ist er aber für immer gegangen. Dem großartigen Schauspieler lag der Umgang mit der Sprache besonders. Er war Synchron- und Hörspielsprecher, und als Vater Findig in der Serie „Was ist denn heut bei Findigs los?“ erreichte er im Berliner Rundfunk ein riesiges Publikum. Er spielte lange an der Volksbühne, gastierte am Theater im Palast, und nach der Wende wurde er gar Musical-Star im Theater des Westens. Vor der Kamera spielte er in über 140 Filmen markante Nebenrollen. Im Mittelpunkt stand er 1994 in der Serie „Der Nelkenkönig“.
Erst als plötzlich das Sterbedatum 30. Mai 2015 in seinem Wikipedia-Eintrag stand, erfuhr man, dass Jürgen Günther, einer der erfolgreichsten Comic-Künstler der DDR; gestorben war. Vor zwei Jahren war zu seinem 75. Geburtstag im Dresdner Holzhof-Verlag der Sonderband „Otto und Alwins großes Fest für Jürgen Günther“ erschienen, in dem Comic-Zeichner, die in der DDR sozialisiert worden waren, Günthers Geschichten adaptierten, unter ihnen Andreas Pasda und Steffen Jähde („Abrafaxe“), Ulf S. Graupner und Sascha Wüstefeld („Das UPgrade“), Thomas Schmitt („Die Matufflis“), Achim Purwin („Knote und Karli“) und Schwarwel („Schweinevogel“). Sie alle haben von ihm gelernt und liebten seine Serie „Otto und Alwin“ aus dem Magazin FRÖSI um die Erlebnisse eines Affen und eines Pinguins. Auch sie sind im Holzhof-Verlag wiederaufgelegt worden. Günther hatte Ende der fünfziger Jahre als Trickfilmzeichner in Dresden erste Bildgeschichten an Atze geschickt und bald darauf Angebote von Fröhlich sein und singen (FRÖSI) erhalten. Unter anderem schuf er Weihnachtskalender, Bastelbögen und die beliebten Wimmelbilder (oft gemeinsam mit seiner Frau Herta, einer Malerin). Er arbeitete auch für die Illustrierten Freie Welt, NBI und das sorbische Blatt Plomjo. Als einziger DDR-Zeichner schuf er ab 1979 über 50 Kaugummibilder für die Firma „OK Big Babaloo“. Bis vor wenigen Jahren zeichnete er noch für die Sächsische und die Berliner Zeitung.
Ein Grafiker, der gelegentlich als Karikaturist arbeitete, starb im April am Tag nach seinem 82. Geburtstag. Jo Fritsche war lange für das Layout der Illustrierten für dich zuständig. Heute dürfte er sich „Art Director“ nennen. Aber er zeichnete auch Witze und Vignetten für Magazin und Eulenspiegel. Die Journalistin Jutta Voigt kannte ihn schon als jungen Mann: „Jo hatte sich viel vorgenommen. Weg mit den Schnörkeln und den Blümchentapeten, her mit weißen Tassen und weißen Wänden. Auf seinem Gebiet war er ein Stürmer und Dränger gewesen, ein Weltverbesserer dazu. Über die Gestaltung einer Kaffeemühlenverpackung redeten er und seine Freunde ganze Nächte lang.“ Im Alter besuchten ihn und seine Frau gelegentlich Freunde von einst. „Später holte Jo seine Mappen“, berichtete Jutta Voigt. „Wir sahen uns mit Hingabe seine Entwürfe und Zeichnungen an, Design im Bauhausstil, alles aus Zeiten, als er ein gefragter Mann war. Wir hatten nicht mehr gewusst, wie gut er gewesen ist!“
Bei Fritsches Beerdigung konnte Jutta Voigt ihren Text nicht selbst vortragen, denn zu nah lag für sie noch der Abschied von ihrem Mann, dem DEFA-Regisseur Peter Voigt, der im gleichen Alter wie der Freund gestorben war. Auch er grafisch begabt, arbeitete zwei Jahre lang als Phasenzeichner beim DEFA-Trickfilmstudio, nachdem er zuvor an Brechts Berliner Ensemble als Regieassistent seine wohl wichtigsten Lehrjahre verbracht hatte. Über diese Zeit drehte er die Filme „Dämmerung – Ostberliner Bohème der 50er Jahre“ (1993) und „Der Zögling“ (1998). Beim Studio H&S hatte er seinen ganz besonderen Stil entwickelt, der den assoziativ mitdenkenden Zuschauer forderte. Gemeinsam mit Konrad Wolf und Erwin Burkert prägte er die Jahrhundert-Serie „Busch singt“ (1982). Voigt, der immer wieder die Verstrickungen einzelner im Hitler-Deutschland thematisierte, fehlt schon jetzt.
„Rotfuchs“ mit Angelika Waller, „Ein Kolumbus auf der Havel“ mit Ursula Werner, „Komm mit mir nach Chicago“ mit Ulrike Krumbiegel waren beliebte Filme, deren Vorlagen Peter Abraham schrieb. Seine wohl größte literarische Erfindung war jedoch die phantasiebegabte Schülerin Carola Huflattich, Heldin aus „Das Schulgespenst“. Um Carola herum schrieb er noch weitere herrliche Kinderbücher. Dass er selbst in den Jahren des Faschismus keine schöne Kindheit hatte, erfuhren seine Leser erst in der 2011 erschienenen Autobiografie „Als ich das Spielen verlernte“. Mit 79 Jahren starb Peter Abraham im März.
In einem seiner Sketche begegnet der Rostocker Kapitänssohn Heinz Kahlow dem eigenen Denkmal. „Geben Sie sich keine Mühe“, sagt die Skulptur, „von Ihnen wird nirgendwo ein Denkmal künden! Ich bin eine Fiktion!“ Nun ist es an der Zeit, Kahlow (vielleicht in Wustrow, wo er lebte) ein Denkmal zu setzen. Am 2. Dezember starb der reiselustige Satiriker und Librettist 91-jährig. Magazin-Leser schätzten seine Reiseberichte mit Kleo, dem klugen Kind. Das war Ev Schwarz, seine Frau und Bühnenpartnerin. Aus Kahlows Filmmusical „Nicht schummeln, Liebling!“ wurde 2008 ein Bühnenstück, und auch seine musikalische Fernsehreihe „ABC der Liebe“ kam als „Decameronical“ auf die Bühne.
Der Komponist dieses Werks, Gerd Natschinski, ist im August gestorben und öffentlich gewürdigt worden. Viel weniger drang ins Bewusstsein, dass im November auch der wohl letzte deutsche Operettenkomponist Guido Masanetz im 102. Lebensjahr von uns ging. Noch im Sommer sah man ihn beim Classic Open Air auf dem Berliner Gendarmenmarkt, aber als im Frühjahr Masanetz´ erfolgreichstes Musical „In Frisco ist der Teufel los“ in Leipzig neuinszeniert wurde, war ihm die Reise dorthin zu beschwerlich.
In Zittau hatte Masanetz in den Nachkriegsjahren als Kapellmeister gewirkt, ehe er nach Berlin ging. Aufgewachsen war er an der schlesisch-mährischen Grenze und hatte in Brünn seine erste Operette „Barbara“ zur Uraufführung gebracht. Zwei weitere folgten. Masanetz, der auch Opern und Schlager schrieb, stand für den Wechsel zwischen Operette und Musical. Sein letztes, „Vasantasena“, brachte er 1978 am Metropol-Theater heraus.
Am Schluss sei eines Kirchenmanns gedacht, der im November 85-jährig starb. Klaus-Peter Hertzsch war Studentenpfarrer und ab 1968 Professor für Praktische Theologie in Jena. Seine Doktorarbeit schrieb er über Brecht. Ihm ist zu danken, dass er mit seinen in Knittelreimen gehaltenen „Biblischen Balladen“ Kindern die biblischen Geschichten leicht fasslich nahebrachte. So soll mit einem Vers aus seinem 1967 erschienenen Buch „Wie schön war die Stadt Ninive“ geendet werden, wo es heißt: „Es scholl ihr Ruf. ‚Gott hat entschieden. / Zieht heim! Zieht heim! Und geht in Frieden.‘“