18. Jahrgang | Nummer 23 | 9. November 2015

Triest

von Pier Paolo Pasolini

Noch nie bin ich in die Peripherie von Triest gefahren, die sich entlang der Straße nach Istrien und Pola erstreckt. Auf den großen Straßen, in den riesigen Mietshäusern, vor dem dunklen traurigen Rund der ungestalten Hügel, herrscht hektisches Sonntagsfieber. Jeder eilt irgendwohin. Überall ist es überfüllt, und zugleich ist es überall leer. Man fühlt sich unwohl. Der Himmel ist weiß und unfreundlich. Meine unnatürliche Fahrt gegen den Strom hat etwas Verzweifeltes. Niemand ist auf der Straße nach Pula unterwegs außer mir.
Triest endet mit den letzten Werften am Hafen, den letzten großen Mietshäusern vor diesen nebligen traurigen Hügeln unter dem weißen Schleier des Himmels.
Hin und wieder gibt es neben der Straße, die am Meer entlangführt, zwischen endlosen Reihen von Häusern und unüberwindbaren Mauern, einen kleinen Strand mit Familien und dem zeitlosen Lächeln der triumphierenden Jugend. Ein kurzes, trostloses Gewimmel.
Ich fahre in Muggia mit seinem kleinen Hafen vorbei, der eine Miniaturausgabe des Hafens von Triest ist und eine traurige Version des Hafens von Grado. Weitere trockene und enge bunte Strände hinter starren Geländern.
Und dann Lazzaretto, der letzte italienische Strand.
Es ist unglaublich, aber hier flackert Italien ein letztes Mal auf, ein Italien, wie ich es seit Hunderten von Kilometern nicht mehr gesehen habe.
Ist es das vertriebene Lumpenproletariat? Eine süditalienische Kolonie? Das Randgebiet des zunehmend elenden triestinischen Hinterlandes? Fest steht jedenfalls: Der kurze Strand von Lazzaretto könnte in Kalabrien liegen. Gemessen an der Enge der kleinen Bucht drängt sich eine unglaubliche Menschenmenge auf einem Rund schlammiger Felsen, auf dreckigen Steinen, unter kahlen Bäumen und auf kümmerlichem Gras. In der Mitte fließt ein Bächlein, das in einem Vorplatz aus schmutzigem Sand ins Meer mündet, es ist Abwasser. Nicht weit davon die Grenzpfähle mit dem Wächterhäuschen.
Hinter der Grenze ist keine Menschenseele mehr zu sehen: Das jugoslawische Territorium scheint unbewohnt. Dort gibt es keine Badenden mehr, kein Haus. Es gibt keine Sonne, tatsächlich zieht zwischen den traurigen Buckeln zweier bewaldeter Hügel ein Gewitter auf, dunkelblaues Gewölk. Gibt es in Jugoslawien keinen Ferragosto? Gibt es dort keinen Sommer?
Ich nähere mich den letzten Badenden an unserem letzten Strand. Es ist eine kleine Gruppe fünfundzwanzigjähriger Männer und Frauen, die auf dem Schotter der Abwassermündung sitzen.
Sie sind weder hässlich noch schön. Es könnte Angestellte sein. Sie genießen ihren Urlaub, mit der gebührenden Faulheit, mit angemessener Befangenheit. Ich schnappe einzelne, schlichte Stimmen aus der Gruppe auf. Eine sagt: „Gib mir mal den Kamm.“
Der Junge, der sich gerade die glatten schwarzen Haare kämmt, sagt gleichgültig: „Wart mal.“
Daneben liegen sich zwei auf einem gelblichen Felsblock in den Armen. Er kneift sie in den Speck an ihrem Rücken und sagt: „Mädel!“ Sie kneift ihn zurück. Ein anderes Paar kommt durch das flache Wasser spaziert. In der fahlen Luft wird eine Stimme laut und herrscht sie an: „Woher kommt ihr?“ – „Vom Boot da?“, will eine andere Stimme heiser wissen. Und wieder die erste, hartnäckig, gelangweilt und fröhlich: „Ich bräuchte mal’n Kamm, der hier ist kaputtgegangen!“
Über die armseligen Stimmen, über den armseligen Strand, wirft das Gewitter einen leichten, weißlichen Schatten. Hier endet Italien, endet der Sommer.

Wir „lesen“ Biographien zumeist von ihrem Ende her. Pier Paolo Pasolini wurde vor vierzig Jahren, am 4. November 1975, am Lido von Ostia ermordet. Die Tat – obwohl es vier Jahre danach zur Verurteilung eines Strichers kam – wurde nie endgültig aufgeklärt. Pasolini recherchierte allerdings um Umfeld neofaschistischer Machenschaften des Geheimdienstes und befand sich über Jahre im Visier von Behörden und der italienischen Rechten. Dieses Geschehen überdeckte Vieles. Seine Filme – einige gehören zum Kanon der Weltfilmkunst – sind oftmals nur noch Cineasten ein Begriff. Allerdings drehte er erst relativ spät, mit 39 Jahren, seinen ersten „eigenen“ Film. Der wurde ein Sensationserfolg: „Accatone – Wer nie sein Brot mit Tränen aß“ (1961). Schon im Jahr darauf folgte „Mamma Roma“. Beides, die Biographie und das filmische Werk, lassen leicht vergessen, dass Pier Paolo Pasolini ein begnadeter Dichter und produktiver Publizist war, der über Jahrzehnte den intellektuellen Diskurs in Italien und zumindest im „links“ denkenden West-Europa mitbestimmte. „Nach allen Spekulationen um seinen Tod, nach kulturellen Umwälzungen, die ein Desinteresse bzw. Unverständnis für sein Werk erzeugt haben, ist es Zeit, zu den Texten zurückzukehren.“ Peter Kammerer schrieb dies im Nachwort zum Reisetagebuch „Die lange Straße aus Sand“ („La lunga strada di sabbia“), dem wir mit freundlicher Genehmigung des Verlages den Triest-Text entnommen haben.
Dieses Tagebuch ist Ergebnis einer Auftragsarbeit der Mailänder Illustrierten
Successo („Erfolg“). Pasolini sollte gemeinsam mit dem Fotografen Di Paolo entlang der italienischen Küste untersuchen, was sich im Ferienverhalten der Italiener verändert habe. Natürlich wollte man einen Erfolgsbericht über die Früchte des italienischen Wirtschaftswunders („un miracolo vero“), das wir in transalpinischer Arroganz gerne übersehen… Der Autor fuhr tatsächlich im Sommer 1959 mit einem Fiat 1100 – den schenkte ihm Federico Fellini für die Mitarbeit an „Die Nächte der Cabiria“(1957) – die gesamte Küste ab. Das Reisetagebuch, in der Summe seiner Texte ein mit förmlich seismographischer Empfindsamkeit erarbeiteter Befund über die Verwerfungen im kulturellen Gefüge des Landes, deren Wirkungen bis in die heutige Zeit nachreichen, erschien 1959 in drei Teilen in der Sucesso.
Die jetzt von CORSO vorgelegte Ausgabe – das Buch erschien auf Deutsch erstmals 2009 in Hamburg bei edel edition – ist Bestandteil einer mehrbändigen Pasolini-Edition, die den deutschen Lesern einen Pier Paolo Pasolini präsentiert, wie ihn wohl nur wenige kennen. Alle Bände sind vorzüglich gestaltet, die Übersetzungen von großer sprachlicher Qualität: „Rom, andere Stadt“ (2011), „Reisen in 1001 Nacht“ (2011), „Afrika, letzte Hoffnung“ (2011), „Indien“ (2014 – Pasolini wird hier gleichsam im Dialog mit Texten Andreas Altmanns präsentiert). Jahrzehntealte Reiseberichte lassen uns nach der Lektüre oftmals nur mit der Schulter zucken. Bei diesen Texten Pier Paolo Pasolinis verhält es sich vollkommen anders…

WB

Pier Paolo Pasolini: Die lange Straße aus Sand. Italien zwischen Armut und Dolce Vita, CORSO, Wiesbaden 2015, 136 Seiten, 28,00 Euro.