von Anett Keller
„Zumindest für den Augenblick ist Indonesien für die Revolution verloren. Verloren sind 110 Millionen Einwohner, 2 Millionen Quadratkilometer, Petroleum, Mineralien, Kautschuk, Diamanten, Kopra, kurz der größte Brocken Südostasiens, ohne dass die USA einen einzigen GI hätten opfern müssen.“ So lautete das Fazit des französischen Journalisten Philippe Gavi über Indonesien, das er nach der beispiellosen Kommunistenjagd 1965/66 besucht hatte.
Die damals drittgrößte kommunistische Partei der Welt, die Partai Komunis Indonesia (PKI), war ausgelöscht. Laut Amnesty International wurden rund eine Million Menschen getötet. Andere Quellen sprechen von 500.000, manche von bis zu 3 Millionen Todesopfern. Augenzeugen berichteten davon, dass das Blut der Ermordeten auf der Insel Java damals Flüsse rot färbte. Und dass Verwandte sich nicht trauten, ihre Toten zu begraben, weil sie fürchteten, dann die nächsten auf der Abschussliste zu sein. Auch auf Sumatra, Plantagenstandort internationaler Unternehmen und Schauplatz der Dokumentarfilme „The Act of Killing“ und „The Look of Silence“, kannten die Schlächter kein Erbarmen. Auf der Insel Bali – heute als Urlauberparadies berühmt – wurden etwa 100.000 (vermeintliche) Linke umgebracht. Im ganzen Land wurden hunderttausende Menschen ohne Gerichtsverfahren in Gefängnisse und Arbeitslager verschleppt, wo sie zum Teil mehr als zehn Jahre verbringen mussten. Tausende Indonesier wurden ins Exil getrieben.
Vorausgegangen war diesem massiven Schlag gegen Indonesiens Linke der Mord an sechs Generälen und einem Leutnant, ausgeführt von einer Gruppe Militärs, die sich „Bewegung 30. September“ (Gerakan Tigapuluh September – G30S) nannte. G30S, die ihre Opfer in der Nacht vom 30. September auf den 1. Oktober 1965 entführte und umbrachte, handelte nach eigenen Angaben, um einem Putsch gegen Indonesiens ersten Präsidenten Sukarno durch reaktionäre Militärs zuvorzukommen. Diese wollten, so die Befürchtung, Anfang Oktober einen Staatsstreich ausführen – weswegen die eher links gerichteten Militärs ihren präemptiven „Rettungsversuch“ unternahmen. Der Dilettantismus der Bewegung 30. September und die Stärke der konterrevolutionären Kräfte sorgten dafür, dass genau das Gegenteil geschah – Sukarno wurde entmachtet und sein Nachfolger Suharto errichtete seine prowestliche und antikommunistische Entwicklungsdiktatur, die 32 Jahre währte.
General Suharto wusste vorab von der geplanten Entführung, unternahm aber nichts, im Gegenteil, er nutzte sie, um die Macht im Staat an sich zu ziehen. Sukarno, der äußerst populäre erste Präsident Indonesiens, wurde unter Hausarrest gestellt und übergab schließlich alle Amtsgeschäfte an Suharto. Unterstützung bekam Suharto von den USA und ihren Verbündeten, die schon in den Jahren zuvor versucht hatten, mit Wirtschaftsblockaden, Geheimdienstoperationen und aktiver Unterstützung von sezessionistischen Aufständen die junge Republik Indonesien zu destabilisieren.
Schachzug gegen die Bewegung der Blockfreien
„Die Gewalt von 1965 ist nicht nur eine menschliche Tragödie, sondern ein Wendepunkt in Indonesiens Geschichte, an dem die Entwicklung des Landes in eine völlig neue Richtung gelenkt wurde“, so der indonesische Historiker Hilmar Farid. „Von vielen politischen Beobachtern wurde und wird jedoch übersehen, dass die Gewalt von 1965 untrennbar verbunden ist mit dem Siegeszug des Kapitalismus.“
„Neue Ordnung“ (Orde Baru) nannte Suharto sein System. Zahlreiche führende zivile und militärische Beamte dieser „Neuen Ordnung“ waren in den USA ausgebildet worden oder hatten Programme US-amerikanischer Stiftungen in Indonesien durchlaufen. Wie gewogen die „Neue Ordnung“ dem Westen war, bewies sie mit Investitionsgesetzen, die von in den USA ausgebildeten indonesischen Wirtschaftswissenschaftlern und unter aktiver Hilfe von US-Ökonomen geschrieben wurden.
Das Morden war noch im Gange, als westliche Investoren begannen, Jakartas große Hotels zu frequentieren. In den Folgemonaten sicherten die Politiker der „freien Welt“ Suharto ihre Unterstützung zu. Mit der Genfer „Investorenkonferenz für Indonesien“ wurde im Dezember 1967 der Weg für Kapitalexport im Austausch gegen Ressourcen und billige Arbeitskräfte geebnet. James A. Linen, Leiter des Medienkonzerns Time Inc., der die Konferenz ausrichtete, erklärte, das Ziel sei „ein neues Klima zu schaffen, in dem Privatunternehmen und Entwicklungsländer für ihr beiderseitiges Interesse und ihren Profit und für den noch größeren Profit der freien Welt zusammenarbeiten“.
Eine völlig neue Richtung bekam Indonesiens Wirtschaftsordnung damals freilich nicht. Die Weichen waren bereits vor 1945 gestellt worden. Jahrhundertelang hatte das Inselreich unter kolonialer Kontrolle gestanden. Im 16. Jahrhundert noch von Portugal dominiert, wurde der Handel mit den in Europa so begehrten Luxusgütern wie Gewürze, Kaffee, Tee, Zucker und Tabak ab dem frühen 17. Jahrhundert von der niederländischen Ostindien-Kompanie dominiert. Landnahme und Zwangsarbeit – in enger Kooperation mit den lokalen Fürstentümern – sorgten für kräftige Gewinne. Ab Ende des 19. Jahrhunderts wurde mit neuen Agrargesetzen und jahrzehntelangen Pachtverträgen verstärkt britisches, belgisches und US-amerikanisches Kapital ins Land geholt. Die Arbeitssklaven auf den Plantagen und in den Minen hießen nun Kontraktarbeiter. Europa verlangte nach mehr Genussmitteln; und nach Kautschuk, Erz und Erdöl für die industrielle Produktion – und seine Kriegsmaschinerie.
Bis zum Zweiten Weltkrieg herrschte die alte Kolonialmacht Holland über Geschäfte und Politik. 1942 marschierten japanische Truppen in Indonesien ein. Nach der japanischen Kapitulation proklamierte Indonesiens erster Präsident Sukarno am 17. August 1945 die Unabhängigkeit. Zunächst gaben die Holländer nicht auf: Von 1945 bis 1949 besetzen sie das Inselreich erneut. Die USA, ihrerseits geleitet von strategischen und ökonomischen Interessen in Südostasien, drohten schließlich, die Mittel aus dem Marshallplan zu stoppen, sollten die Niederlande den Krieg in Indonesien fortführen.
Innerindonesische Machtkämpfe zwischen dem reaktionären und dem revolutionären Lager waren schon während des Unabhängigkeitskriegs ausgebrochen. 1948 löste die Regierung bewaffnete Verbände auf, die der Linken nahestanden – zu einer Zeit, als alle Kräfte gegen die zurückgekehrte Kolonialmacht gebraucht wurden. Daraufhin brach ein Aufstand aus, der gewaltsam niedergeschlagen wurde. Die „Madiun-Affäre“ mit zehntausenden Toten und Verhafteten war ein schwerer Schlag gegen die 1920 gegründete kommunistische Partei, die im Unabhängigkeitskampf über Jahrzehnte eine wichtige Rolle gespielt hatte.
Das bürgerliche Lager hatte sich durchgesetzt – und Präsident Sukarno genoss zunächst das Vertrauen des Westens. In die junge Republik flossen Entwicklungshilfegelder aus Washington ebenso wie aus Moskau. Die zunehmende Blockbildung und die Suche vieler ehemaliger Kolonien nach einem „dritten Weg“ fand auch in Indonesien Resonanz. 1955 richtete Sukarno in Bandung die erste Asien-Afrika-Konferenz aus, die zur Geburtsstunde der Blockfreien-Bewegung wurde.
Indonesien ging zunehmend auf Konfrontation zum Westen. Ab 1957 ließ Sukarno ausländische Großunternehmen enteignen. 1960 wurde eine Bodenreform beschlossen, die zwar nie wirklich umgesetzt wurde, aber den Konflikt zwischen landlosen Bauern, von denen viele der PKI nahestanden, und Großgrundbesitzern verschärfte. Sukarno versuchte in einer erratischen Schaukelpolitik, nationalistische, religiöse und linke Kräfte im Land auszubalancieren. Einerseits machte er international Schlagzeilen mit dramatischen antiimperialistischen Gesten gen Westen, wie seinem berühmten Satz: „Go to hell with your aid!“ Andererseits versuchte er die wachsende Macht der PKI einzudämmen, indem er reaktionäre Militärs auf ihren Posten hielt. Sukarno, dessen Gesundheitszustand sich im Verlauf des Jahres 1965 offenkundig verschlechterte, klammerte sich an die Macht und orientierte sich zunehmend in Richtung China. Westliche Regierungen betrachteten die explosive innenpolitische Lage und den wachsenden Zulauf bei den Kommunisten mit Sorge. (1965 hatte die PKI rund 3 Millionen Mitglieder, die ihr nahestehenden Massenorganisationen eingerechnet, kommt man schätzungsweise 20 Millionen Unterstützer.)
Sukarnos Popularität blieb indes ungebrochen, weshalb ein offen gegen ihn gerichteter Putsch nicht infrage kam. „Aus unserer Sicht wäre ein verfrühter Putschversuch der PKI am effektivsten, um eine Umkehrung des politischen Trends in Indonesien zu erreichen“, teilte US-Botschafter Howard Jones im März 1965 seinen Kollegen im Außenministerium mit. Im selben Monat genehmigte der US-Sicherheitsrat verdeckte Operationen gegen die PKI. Im August wurde Marshall Green zum Botschafter ernannt, um in Kooperation mit den prowestlichen Militärs in Indonesien eine härtere Linie gegen Sukarno durchzusetzen. „Vor dem Hintergrund, dass die (US)-Botschaft einen Showdown provozieren wollte, ist anzunehmen, dass einige von der CIA durchgeführte Operationen Maßnahmen beinhalteten, die die PKI glauben machen sollten, sie und Sukarno seien in ernsthafter Gefahr“, schreibt der kanadische Historiker John Roosa.
In diesem politischen Klima kam es am 30. September zur Entführung und Ermordung ranghoher Militärs durch die „Bewegung 30. September“. General Suharto nutzte die Gunst der Stunde für einen antikommunistischen Putsch. (Die CIA sollte später den Putsch der Generäle in Chile 1973 intern als „Operation Jakarta“ bezeichnen.) Eine Welle des Mordens ging über das Land. Auch zahlreiche Zivilisten verhafteten, töteten und folterten im Auftrag der Militärs.
Für Indonesiens Frauenbewegung, die 1950 gegründete Gerwani (Gerakan Wanita Indonesia – Frauenbewegung Indonesiens) bedeutete das Jahr 1965 ebenfalls das Ende. Gerwani-Aktivistinnen, viele von ihnen bereits im Unabhängigkeitskampf gegen die Holländer aktiv, hatten Frauen (politische) Bildung vermittelt. Sie brachten ihnen auf den Dörfern das Lesen und Schreiben bei, bauten Kindergärten auf, kämpften gegen häusliche Gewalt und Polygamie. Gerwani war als Teil linker Bewegungen an Kampagnen für Agrarreform und Arbeiterrechte beteiligt und international gut vernetzt, zum Beispiel entsandte sie regelmäßig Vertreterinnen zur Women’s International Democratic Federation (IDFF) nach Ostberlin. 1,5 Millionen Mitglieder hatte Gerwani 1965.
Nach dem Mord an den Generälen wurden auch sie zur Zielscheibe. Militärmedien streuten das Gerücht, Gerwani-Frauen hätten ihnen die Penisse abgeschnitten und die Augen ausgestochen. Die Obduktionsergebnisse, die bewiesen, dass die Opfer intakte Augäpfel und Genitalien hatten, wurden unter Verschluss gehalten. Die Hexenjagd gegen die „wilden Weiber der Gerwani“ zeigte Wirkung. Linke Frauen und solche, die dafür gehalten wurden, wurden zu Hunderttausenden Opfer von systematischer sexueller Gewalt, ausgeübt von Militärs, Milizen und zivilen Mitläufern.
Die Überlebensberichte zeugen von der Grausamkeit der Täter. „Ich wurde auf verschiedene Weise gefoltert, am häufigsten durch Vergewaltigung und Stromschläge“, berichtet die Gerwani-Aktivistin Maryati, die 13 Jahre inhaftiert war. „Meistens musste ich mittags und abends als Sexdienerin zur Verfügung stehen. Jeder durfte einfach so in meine Zelle kommen. Ich erinnere mich an den Tag, an dem ich von zwölf Männern vergewaltigt wurde, bis ich das Bewusstsein verlor.“
Für die Überlebenden war auch nach der Haftentlassung an Freiheit nicht zu denken. Alle ehemaligen politischen Häftlinge bekamen den Stempelvermerk ET (eks tapol: ehemaliger politischer Häftling). Sie mussten sich regelmäßig bei der örtlichen Militärbehörde melden, durften nicht im öffentlichen Dienst arbeiten, und auch überall sonst, wo bei einer Arbeitsvermittlung Papiere gefragt waren, standen ihre Chancen schlecht. In Dörfern und Wohnvierteln wurden die „Involvierten“ wie Aussätzige behandelt.
Neben den körperlichen Folgen der Folter blieben die psychischen Wunden. Ehen von Paaren, die sich nach Jahren der Haft endlich wieder trafen, zerbrachen, weil sich die erlebte Gewalt fortsetzte. Die Folgen der physischen und psychischen Zerstörung eines großen Teils der indonesischen Gesellschaft sind heute noch spürbar – auch für die zweite und dritte Generation.
Der deutsche Botschafter und der Diktator
Die Zerschlagung der indonesischen Linken stimmte die Staaten der westlichen Welt siegesgewiss. Hunderttausende getötete Kommunisten böten eine ausreichende Garantie, dass die neue Regierung alles tun werde, um einen erneuten Linksruck im Land zu verhindern, freute sich 1967 der neue bundesdeutsche Botschafter in Jakarta, Kurt Lüdde-Neurath. (Das SA-Mitglied Lüdde-Neurath hatte bereits im Zweiten Weltkrieg einen strategisch wichtigen Posten innegehabt: an der deutschen Botschaft in Tokio. Später diente er den Interessen der Bundesrepublik von 1973 bis 1975 als Botschafter in Chile.) Über eine Beteiligung oder Mitwisserschaft der Bundesrepublik an dem Umsturz wird in Berlin bis heute geschwiegen. Sämtliche Bundesregierungen pflegten – ebenso wie die Unternehmen – gute Beziehungen zur Diktatur.
In Indonesien selbst galt nur diese Version der Geschichte: Suharto habe das Land vor Chaos und kommunistischer Gewalt bewahrt. In Schulbüchern, Denkmälern und Museen und ab Mitte der 1980er Jahre mit dem für Schulkinder obligatorischen, fast vierstündigen Propagandafilm „Der Verrat der Bewegung 30. September/PKI“ wurde sie in die Köpfe eingeschrieben. Die Botschaft all dieser geschichtspolitischen Maßnahmen war, dass politische Aktivitäten nur Unheil bringen und man sich besser auf wirtschaftlichen Aufschwung konzentriere. Die Entpolitisierung der Gesellschaft, zusätzlich befördert durch eine Überwachungsstruktur, unter anderem mit Hilfe ziviler Denunzianten, zeigte Wirkung. Suharto wurde als „Vater des Aufschwungs“ (bapak pembangunan) verehrt, der Indonesien in die Moderne geführt habe.
1998 trat Suharto zurück. Die nun im Zuge der reformasi garantierte Meinungs- und Versammlungsfreiheit führte immerhin dazu, dass sich die Opfer von 1965 offener äußern konnten. Vor allem während der Präsidentschaft von Abdurrahman Wahid (genannt Gus Dur) wurden zwischen 1999 und 2001 viele Initiativen zur Aufarbeitung der Vergangenheit gestartet. Wahid, der zuvor Vorsitzender der größten muslimischen Organisation Nahdlatul Ulama gewesen war, entschuldigte sich öffentlich dafür, dass deren Mitglieder 1965 Seite an Seite mit den Militärs gemordet hatten. In seine Amtszeit fiel auch die rechtliche Rehabilitierung von ehemaligen politischen Gefangenen. Zur Umsetzung eines weiteren Ziels von Wahid, die Aufhebung des Verbots der kommunistischen Partei und der Verbreitung marxistischer Schriften, kam es nicht mehr. Wahid wurde wegen Korruptionsvorwürfen seines Amtes enthoben.
2008 starb Suharto, mit einem Staatsbegräbnis erhielt er die höchste letzte Ehre. Die Opfer seines Systems warten immer noch auf die Anerkennung ihres Leids. Auf staatlicher Seite sind kaum Schritte zur Aufarbeitung unternommen worden. Zwar erschien 2012 ein Bericht der Nationalen Menschenrechtskommission, der die Gewalt von 1965 als Verbrechen gegen die Menschlichkeit einstuft, das Militär als Drahtzieher nennt und eine juristische Aufarbeitung fordert. Doch die „alten Kräfte“ setzten alles daran, Aufklärung und Strafverfolgung zu verhindern. Das reichte von Besuchen von Militärs und Vertretern religiöser Gruppen bei der Menschenrechtskommission bis zu Morddrohungen gegen Einzelne ihrer Mitglieder.
Den Empfehlungen der Menschenrechtskommission, Ermittlungen einzuleiten, ist die Generalstaatsanwaltschaft bislang nicht gefolgt. Auch auf eine öffentliche Entschuldigung von Präsident Joko Widodo, der im Juli 2014 die Wahlen auch mit dem Versprechen gewann, die Umsetzung von Menschenrechten ernsthafter zu betreiben als seine Vorgänger, warten die Überlebenden bislang vergebens.
Ein öffentliches „internationales Volkstribunal“, das (Exil-)Indonesier und Aktivisten aus dem In- und Ausland in Den Haag organisieren, wird zwar keine juristische Wirkung entfalten können, aber Aufmerksamkeit auf Indonesiens unaufgearbeitete Geschichte lenken. Dem staatlichen Unwillen zur Aufarbeitung steht eine Dynamik in der Zivilgesellschaft gegenüber, die in den letzten Jahren Versöhnungsinitiativen, Forschungsprojekte, Bücher, Filme, Theaterstücke und Ausstellungen hervorgebracht hat. Massengräber werden dokumentiert, Spenden für Opferfamilien gesammelt und Diskussionen mit Überlebenden organisiert.
Keine staatliche Aufarbeitung der Verbrechen
Die staatliche Erinnerungspolitik ist jedoch weiterhin von den alten Lehrbüchern und den unter Suharto errichteten antikommunistischen Monumenten und Museen beherrscht. Die antikommunistischen Ressentiments in der Bevölkerung sind immer noch stark, sie gipfeln manchmal in gewalttätigen Angriffen auf Überlebende und Aktivisten. „Die Herausforderung besteht auch darin, sehr dicke Schichten kollektiver Erinnerung zu durchdringen, die jahrzehntelang durch die Staatspropaganda verzerrt wurde“, schreibt die Historikerin I Gusti Agung Ayu Ratih und fordert eine „Demilitarisierung der Geschichte“
Viel Hoffnung wird auf die Öffentlichkeitswirksamkeit der Dokumentarfilme von Joshua Oppenheimer gesetzt. Nach „The Act of Killing“ (2012) lief am 1. Oktober „The Look of Silence“ in deutschen Kinos an. In drastischer Bildsprache kommen in beiden Filmen die Täter von 1965 zu Wort. Während „The Act of Killing“ einer Gruppe von Tätern dabei zusieht, wie sie einen Film über ihr Morden drehen, folgt „The Look of Silence“ einem Mann, der die Mörder seines Bruders mit ihren Taten konfrontiert. Oppenheimers Filme und der Mut, mit dem vor allem das anonym bleibende indonesische Filmteam für ihr Entstehen große Risiken auf sich genommen hat, verdienen Respekt.
Doch das Zurschaustellen des Grauens birgt auch die Gefahr, dass beim Zuschauer außer Schockstarre nicht viel bleibt. Zumal die Filme über den internationalen politischen Kontext des Geschehens kaum etwas aussagen. Soll sich die Hoffnung der indonesischen Überlebenden auf „mehr Öffentlichkeit und mehr Wissen“ erfüllen, braucht es Medienvertreter und Kinobesucher, für die diese Filme erst der Anfang einer Auseinandersetzung mit dem verdrängten Massenmord, dessen Folgen und der internationalen Verantwortung dafür sind.
Aus: Le Monde diplomatique vom 8. Oktober 2015. Übernahme mit freundlicher Genehmigung des Verlages.
Anett Keller ist Journalistin und Herausgeberin von „Indonesien 1965 ff. – Die Gegenwart eines Massenmordes“, Regiospectra, Berlin 2015, 214 S. 19,90 Euro.
Schlagwörter: Anett Keller, Antikommunismus, Indonesien, Massenmord