von Mario Keßler, zurzeit New York
„Fractured Times“, Eric Hobsbawms jüngstes Buch, ist sein vorerst letztes: Der 2012 verstorbene britische Historiker österreichischer Herkunft konnte diese Sammlung von 22 Essays noch selbst in den Druck geben, erlebte aber ihr Erscheinen nicht mehr. Wie alle Bücher Hobsbawms zeichnet sich auch dieses durch einen weiten kulturhistorischen Blick und eine einprägsame, dem undogmatisch-marxistischen Denken verpflichtete Argumentation aus.
Die Bandbreite der im Buch versammelten Beiträge reicht von Überlegungen zur Hochkultur im 19. Jahrhundert und zur Funktion von Festivals als Bestandteil des bürgerlichen Kulturbetriebs über den Jugendstil und seine britischen Vorläufer, biographischen Essays zu Karl Kraus, Joseph Needham und J. D. Bernal bis hin zur Figur des nordamerikanischen Cowboys als internationalem Massenidol. Eine Reihe der Abhandlungen schrieb Hobsbawm in deutscher Sprache für ein deutschsprachiges Publikum. Die Übersetzungen ins Englische besorgte mit Christine Shuttleworth die Tochter der Schriftstellerin und Historikerin Hilde Spiel, einer kongenialen Geistesverwandten Eric Hobsbawms.
Stärker als in früheren Werken betont Hobsbawm, hier Walter Benjamin folgend, die kulturelle Schöpfung als eigenständigen Faktor menschlicher Aneignung der Wirklichkeit. Sie sei kein bloßes Überbau-Phänomen, sondern inhärenter Bestandteil der Grundlagen humaner Existenz. Dies gelte im „Zeitalter technischer Reproduzierbarkeit“ kultureller Werte weit mehr als zu Lebzeiten von Marx und Engels. Das Ringen um kulturelle Hegemonie – hier folgt Hobsbawm Antonio Gramsci, einem seiner geistigen Leitbilder – sei eine notwendige Komponente des Kampfes um Verbesserung der Welt und somit der wichtigste Beitrag, den Intellektuelle zur sozialistischen Bewegung beisteuern könnten. Dabei müssten sie das kulturelle Erbe der Vergangenheit, insbesondere des von Hobsbawm fast hymnisch gepriesenen Zeitalters der Aufklärung, gegen eine kommerzielle Verflachung verteidigen.
Zwei Beiträge behandeln die Rolle jüdischer Mäzene und Publizisten im Kulturbereich Mitteleuropas. In „The Enlightenment and Achievement: The Emancipation of Jewish Talent since 1800“ plädiert Hobsbawm für eine Sichtweise, die (anders als zum Beispiel Kurt Tucholsky) den Prozess der jüdischen Emanzipation nicht nur als von Nichtjuden gewährten Gnadenakt darstellt. Vielmehr hebt er die eigenständigen Leistungen jüdischer Wirtschaftsbürger, Mäzene, Intellektueller und Politiker – nicht zuletzt in der Arbeiterbewegung – als unerlässliche Voraussetzung eines Emanzipationsprozesses hervor, dessen Beitrag zur Humanität wie so vieles Andere im Zeitalter imperialistischer Barbarei ab 1914 vernichtet wurde. Hobsbawm sieht das Jahr 1848 als eine europäische Möglichkeit, als das Jahr, in dem Juden von Adolphe Crémieux über Daniel Manin bis zu Eduard Simson, Johann Jacoby, Karl Marx und Ferdinand Lassalle an den Revolutionen aktiv Anteil nahmen. Der imperialistische Weltkrieg von 1914 bis 1918 sollte mit seinen Orgien des Chauvinismus auch entscheidend zur Rücknahme der jüdischen Emanzipation beitragen, wiewohl sich kaum ein Zeitgenosse dessen bewusst war – auch nicht die vielen Juden, die die Kriegspropaganda „ihrer“ Regierungen unterstützten, wie Hobsbawm im Beitrag über „The Jews and Germany“ schreibt. „Die deutschen Juden wollten unbedingt Deutsche sein, obgleich sie, wie [Peter – M.K.] Pulzer mit Recht betont, nicht einfach in der deutschen Nation, sondern im deutschen Bürgertum aufgehen wollten.“ Anders als Pulzer, für den die deutschen Juden ungewollt Fremdkörper in Deutschland blieben, sieht Hobsbawm sie als Deutsche, denen erst die Nazis klar machten, dass sie dies nicht sein durften. Natürlich greift Hobsbawm hier auch auf seine Berliner Erfahrungen der Jahre 1931 bis 1933 zurück: Als aktiver Jungkommunist erlebte er im Sozialistischen Schülerbund keinerlei Ausgrenzung. Neuere Forschungen (so von Shulamit Volkov und Michael Brenner) haben jedoch gezeigt, dass bereits in der Weimarer Republik ein allmählicher Dissimilations- und Entfremdungsprozess unter deutschen Juden einsetzte, der sogar die Zahl ihrer Auswanderer nach Palästina (im Gegensatz zum allgemeinen Trend der späten zwanziger Jahre) leicht ansteigen ließ.
Im Beitrag „The American Cowboy: An International Myth?“ bricht Hobsbawm eine Lanze für Karl May. Obgleich dessen „Wilder Westen“ eine Phantasiewelt war, trug May doch entscheidend dazu bei, dass Millionen junger Leser nicht nur im deutschen Sprachraum eine Sympathie für die nordamerikanischen Ureinwohner entwickelten. Weit kritischer sieht Hobsbawm „die Neuerfindung der Tradition des Cowboys in unseren Zeiten als gängiges Mythos in Reagans Amerika“. Ronald Reagans mit dem Cowboy-Mythos erfolgreich propagierte Politik der Stärke hat, so Hobsbawm, keine Berührungspunkte mit der pazifistischen Botschaft eines Karl May (oder eines Friedrich Gerstäcker).
Viel mehr wäre zu diesem Buch zu sagen – und viel mehr zu Eric Hobsbawms anderen, einer weiten Leserschaft heute kaum noch bekannten Aufsätzen, die er von 1968 bis 1991 für die Zeitschrift Marxism Today schrieb. Aus ihnen ließe sich, dieses Mal eher im Bereich politischer Analysen, eine ähnlich gehaltvolle Sammlung zusammenstellen, wie die hier vorliegende, in der der Kulturhistoriker Hobsbawm spricht. Vielleicht ergreifen Hobsbawms Nachlassverwalter eine entsprechende Initiative? So gesehen, muss dieses letzte Buch Eric Hobsbawms nicht seine allerletzte Wortmeldung bleiben.
Eric Hobsbawm: Fractured Times. Culture and Society in the Twentieth Century, The New Press, New York 2014, 319 Seiten, 27,95 US-Dollar.
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