von Thomas Ruttig, Kabul/Oranienburg
Das könnte Langzeit-Weltrekord sein: Knapp fünf Monate nach der Parlamentswahl am 18. September 2010 und vier nach Verkündigung des „endgültigen“ Endergebnisses haben die Abgeordneten immer noch nicht ihre Arbeit beginnen können. Kurz vor dem 23. Januar, dem Termin der Amtseinführung, ordnete Präsident Hamed Karzai an, dass das aus 249 Mitgliedern bestehende Unterhaus (darunter 64 über eine Quote gewählte Frauen) weiter warten muss. Begründung: Ein von ihm eingesetztes Sondergericht benötige mehr Zeit, um die tatsächlich massiven Wahlfälschungen weiter aufzuarbeiten. Doch der Hintergrund ist alles andere als demokratisch. Karzai gefällt das Wahlergebnis überhaupt nicht; viele seiner Verbündeten sind durchgefallen, und das trotz erheblicher Manipulationen zu ihren Gunsten. In Kabul zirkuliert eine Liste mit 50 Namen, die Karzai im Parlament sehen will – ob gewählt oder nicht.
Das wirft ein bezeichnendes Licht auf den Stand des politischen Prozesses in Afghanistan, der nach dem Sturz des Taleban-Regimes im Westen auch als Demokratie-Projekt betrachtet wurde. Zu dieser Zeit galt Demokratie den meisten Afghanen noch als Hoffnungswort, und Karzai als Hoffnungsträger. Nach Mulla Muhammad Omars Rückzug nach Pakistan waren die meisten Afghanen darauf versessen, ihr Schicksal endlich wieder in die eigenen Hände nehmen zu können. Doch schon damals gab es Zweifel, ob das gelingen würde. „Der Kommunismus ist hier gescheitert, der Islam ist hier gescheitert“, sagte mir Kabir Ranjbar noch Ende 2001, einer der profiliertesten Mitglieder des alten Parlaments, der seine Dissertation einst an der DDR-Akademie der Wissenschaften schrieb, mit Hinweis auf die sowjetisch gestützten Regierungen zwischen 1978 und 1992 sowie auf ihre islamistischen Nachfolger, der Mujahedin (1922-96) und der Taleban (bis 2001). „Der einzige Weg ist jetzt die Demokratie. Aber was wird geschehen, wenn auch die Demokratie scheitert?“ So weit scheint es nun zu sein.
Die Befürchtungen, dass sich die massiven Fälschungen, die bei der Präsidentschaftswahl 2009 zu einem äußerst fraglichen Sieg Karzais führten, 2010 wiederholen würden, bestätigten sich. Wie schon vor zwei Jahren mussten diesmal wieder weit über eine Million Stimmen für ungültig erklärt werden, knapp ein Viertel aller Stimmen. Obwohl: So genau weiß man das gar nicht, denn es gibt für Afghanistan keine exakte Bevölkerungszahl, deshalb auch kein verlässliches Wählerverzeichnis. Sicher ist nur, dass 17,4 Millionen Wählerausweise kursieren, dass das viel zu viele sind und dass sie 2009 und 2010 für die erwähnten Fälschungen eingesetzt wurden. Wahlergebnis: Niemand traut dem Ausgang, und die verschobene Parlamentseröffnung zeigt, dass das Tauziehen darum, welche Stimmen nun gewertet werden und welche nicht, sich noch einige Zeit hinziehen kann.
Die größte Ironie ist, dass die westlichen Regierungen 2009 Karzais anrüchigen Wahlsieg anerkannten. Zwar hielten sie sich im vergangenen Jahr mit Lobeshymnen zurück, aber das gab Karzai erst recht freie Hand für seine Eingriffe in den Wahlprozess, die auch eigentlich geltende Verfassungsbestimmungen aushebeln. Dieses Ergebnis zur Kenntnis nehmend, kamen zahlreiche Parlamentskandidaten zu dem Schluss, dass sie keine Chance haben, wenn sie nicht selbst tricksen.
Die eigentliche politische Bedeutung der beiden Wahlen liegt aber außerhalb des Landes: Sie sollten dem Westen erlauben, Erfolge im Prozess der „Übergabe der politischen Verantwortung“ an die afghanische Regierung zu deklarieren, der auf dem NATO-Gipfel 2010 in Lissabon mit dem Endpunkt 2014 beschlossen wurde. Dies geht aber nur, wenn die Wahlen einigermaßen ruhig und regelrecht vonstatten gehen. Der bekannte Friedensforscher Amitai Etzioni von der University of California schrieb jüngst höhnisch in seinem Blog von „Erfolgen ohne Fortschritt“.
Die afghanische Wahl 2010 war aber bereits die politische Abschiedsvorstellung des Westens aus dem leidgeprüften und immer noch nicht stabilisierten, geschweige denn friedlichen Afghanistan. Und dieser Rückzug wiederum ist Zeichen des Scheiterns des Westens – eines unnötigen Scheiterns, zumindest in Sachen Demokratisierung.
Eigentlich war schon nach dem ersten Wahlzyklus 2004/05 klar, dass das gesamte Wahlrecht reformiert werden müsste. Weder das geschah, noch setzten sich die westlichen Regierungen hinreichend dafür ein, dass die afghanischen Wahlinstitutionen wirklich unabhängig wurden. Es gibt keine von allen Seiten anerkannte Schlichtungsstelle; das Oberste Gericht ist Karzai-hörig, ein Verfassungsgericht gibt es nicht. Das führt zu dem gegenwärtigen politischen Jojo-Spiel zwischen Wahlkommission, Gerichten und Kabuler Präsidentenpalast.
Dies alles konnte man in den Berichten der offiziellen Wahlbeobachter von EU und OSZE – nominiert von eben diesen Regierungen – nachlesen. Die internationale Gemeinschaft war damit beschäftigt, die Taleban militärisch zurückzudrängen und vergaß darüber alles weitere. Auf der Afghanistan-Konferenz im Juli in Kabul bescheinigte sie der Karzai-Regierung sogar wider besseres Wissen, diese fühle sich „vollständig der Durchführung transparenter, inklusiver und glaubwürdiger Wahlen verpflichtet.“ Die fehlenden Rechtsgrundlagen sind geradezu eine Einladung zum Manipulieren, die das Vertrauen der Afghanen in demokratische Prozesse weiter schwinden lassen. Die Taleban – die einzige organisierte Alternative – wird’s freuen.
Selbst wenn hinter vielen Namen in der Mitgliederliste des afghanischen Parlaments noch Fragezeichen stehen, kann man den Trend schon erkennen: Präsent sind vor allem Kandidaten mit Feuerkraft und Geld, frühere Mujahedin-Kommandeure, neureiche Geschäftsleute. Oft überschneiden sich beide Gruppen. Dazu kommen eine ganze Reihe politisch noch nicht einzuordnender Newcomer, darunter viele Frauen. Nur 90 Mitglieder des 2005 gewählten ersten Nach-Taleban-Parlaments schafften den Wiedereinzug. Kandidaten aus der pro-demokratischen, regierungskritischen Minderheit wurden mehrheitlich nicht wiedergewählt. Sie konnten einfach nicht bei den massenweisen Fälschungen mithalten – oder weigerten sich, dabei mitzumachen. Wie der Jurist Ranjbar.
Damit wird das neue Unterhaus noch weniger erfahren und weniger „politisch“ sein als das alte. Und es wird noch stärker als zuvor unter dem Einfluss der mit Karzai verbündeten Warlords stehen. Nur ob es auch durchgängig den Präsidenten unterstützen wird, ist noch unklar. Ohne Parteien und Fraktionen – die sind laut geltendem Wahlrecht nicht zugelassen – kann sich jeder Abgeordnete vor jeder Abstimmung überlegen, wie er oder sie stimmen will. Das macht sie anfällig für politischen Druck, Manipulation und materielle Anreize – von allen Seiten.
Insgesamt waren die Wahlen ein weiterer Rückschlag für Afghanistans 2001 begonnenen und dort mit vielen Hoffnungen begleiteten fragilen demokratischen Prozess, den man in den Rückwärtsgang gezwungen hat. Ranjbars Pessimismus war berechtigt.
Die Frage ist, ob so etwas wie eine außerparlamentarische Demokratie-Bewegung entstehen kann. Doch wenn sich die westlichen Truppen – darunter die deutschen – schon ab diesem Jahr aus Afghanistan zurückziehen werden und damit auch die politische Aufmerksamkeit für das Land, seine Menschen und die Demokraten unter ihnen schwinden wird, dürften sie leicht zu Opfern der dann ungebremsten Warlords werden.
Der Autor beschäftigt sich seit 1980 mit Afghanistan, hat dort viele Jahre gelebt und spricht die beiden größten Landessprachen. Zur Zeit ist er Ko-Direktor und Senior Analyst des Afghanistan Analysts Network, eines unabhängigen, von nordischen Ländern geförderten Think Tanks mit Sitz in Kabul und Berlin; er hat seit 2002 alle Wahlen in Afghanistan entweder mit organisiert oder (ab 2004) beobachtet. Mehr unter www.aan-afghanistan.org
Schlagwörter: Afghanistan, Hamed Karzai, Thomas Ruttig