18. Jahrgang | Nummer 19 | 14. September 2015

Mörderisches Landleben

von Mathias Iven

„Sage mal, sieht es da auf dem Land wirklich so aus?“ – Wenn man eine Weile in England gelebt hat, wird man irgendwann von manch einem aufmerksamen Fernsehzuschauer auch mit dieser Frage konfrontiert. Und man muss zugestehen, dass es sie gibt: die „heile Welt“ der strohgedeckten Cottages, die jahrhundertealten Dorfkirchen, die traditionsreichen Pubs – all das existiert wirklich. Nur die Sicht darauf wird durch Film und Fernsehen zuweilen verklärt, denn bis heute wird „das ländliche England, aller Industrialisierung zum Trotz, als das wahre England gefeiert“.
Was für den Schweden-Krimi die Weite und Einsamkeit der Schärenlandschaft ist, das ist für den englischen Krimi das Dorf. Nirgends sonst repräsentiert sich die Geschlossenheit einer Gesellschaft so wie auf dem Land. Nur hier scheint man im „Zustand von Unschuld und Gnade“ zu leben. Schnell kommt da die Sehnsucht nach alten Zeiten auf. Doch Vorsicht ist geboten. Unter der wunderschönen Oberfläche schlummert eine dunkle Seite. Alle haben etwas zu verbergen, lügen oder tun noch Schlimmeres. „Angst, Entsetzen und Rache sind jene Gefühle, die scheinbar nicht in die ländliche Idylle passen wollen, deren Ausleben aber das Überleben sichert“. Luise Berg-Ehlers weiß, wovon sie spricht. Die ausgewiesene Südengland-Kennerin hat sich den Tatorten – den fiktiven ebenso wie den realen – unerschrocken genähert und weckt mit ihrer jetzt als Taschenbuch vorliegenden Berichterstattung nicht nur die Lust auf einen neuerlichen Griff ins Regal, sondern lädt alle Krimifans zugleich zum touristischen Nacherleben ein …
Beginnen wir in St. Mary Mead, dem legendären Wohnort von Jane Marple. Gerade sie, die von Agatha Christie geschaffene, „das Altmodische des Altjüngferlichen“ schätzende Amateurdetektivin hatte ihr literarisches Leben lang ein untrügliches Gefühl dafür, wann die dörfliche Idylle sich ein wenig zu perfekt präsentierte. So ging es auch dem in Midsomer ermittelnden DCI Tom Barnaby – mittlerweile abgelöst von seinem Cousin John –, den Caroline Graham kreuz und quer durch die mit nahezu 300 Toten „gefährlichste Grafschaft in England“ schickte. Das „echte“ Midsomer, sprich der Drehort für die seit 1997 laufende Krimiserie, liegt übrigens in den Grafschaften Buckinghamshire und Oxfordshire. Irgendwo in Sussex angesiedelt, doch gleichfalls erdacht, ist das Örtchen Kingsmarkham, Ausgangspunkt für die Recherchen des von Ruth Rendell, alias Barbara Vine, geschaffenen Inspectors Reginald Wexford.
Natürlich ist die Szenerie englischer Krimis nicht immer nur ein Produkt des schriftstellerischen Vorstellungsvermögens. P. D. James ließ ihren Inspector Adam Dalgliesh in East Anglia ermitteln und Jean G. Goodhind hat das Betätigungsfeld der antike Dessous sammelnden Hotelbesitzerin Honey Driver nach Bath verlegt. Dorothy L. Sayers bevorzugte die Cotswolds, diese „steingewordene Idylle einer typischen Ländlichkeit“, als Schauplatz für die Nachforschungen des früheren Geheimdienstmitarbeiters und Amateurdetektivs Lord Peter Wimsey. Und Inspector Thomas Lynley samt Sergeant Barbara Havers, sprich das Ermittlerduo der Elizabeth George, hatten mittlerweile Fälle auf der ganzen Insel zu lösen, von den Highlands hoch im Norden bis hinunter auf die vor der französischen Küste liegende Kanalinsel Guernsey. – Wem das jedoch alles zu ländlich ist, der sollte sich nach London, in die „Metropole des Verbrechens“ aufmachen.
Von Mord und Totschlag abgesehen geht es Luise Berg-Ehlers aber auch um das „Drumherum“. So erfährt der Leser ganz nebenbei wie es mit der englischen Lebensart im Allgemeinen aussieht, wie sich Alltägliches und Sonntägliches unterscheiden oder vermischen, welche Rolle Tearoom und Pub spielen und wie mörderisch es auf den Dorffesten wirklich zugeht. Das reich illustrierte Bändchen gehört somit nicht nur in jede gut sortierte Krimibibliothek, sondern auch in das Gepäck für den nächsten Besuch in Großbritannien.

Luise Berg-Ehlers: Mit Miss Marple aufs Land. Englische Kriminalschriftstellerinnen zwischen Tearoom und Tatort, Insel Verlag, Berlin 2015, 144 Seiten, 12,95 Euro.