18. Jahrgang | Nummer 16 | 3. August 2015

Patti Smith: 40 Jahre „Horses“

von Wolfgang Hochwald

Musikalische Erweckungserlebnisse beginnen natürlicherweise so, dass man einen Song oder eine Platte hört und von der Musik eingenommen wird. Meine Liebe zur Musik von Patti Smith hat allerdings mit einem Text angefangen; kein schlechter Einstieg für eine Künstlerin, die ihre Laufbahn mit Gedichten und Prosatexten begonnen hat. Über Patti Smith las ich erstmals 1976 in pardon, seinerzeit die literarisch-satirische Zeitschrift der Bundesrepublik und mein Leib- und Magenblatt in den siebziger Jahren.
Was war es, das mich an Walter Hartmanns Beschreibung der New Yorker Sängerin – unter dem Titel „Die neue Wölfin des Rock“ veröffentlicht – so anzog? Hartmanns Begeisterung für Patti Smiths erste Platte „Horses“, 1975, also vor nun 40 Jahren erschienen, übertrug sich direkt auf mich. Die Beschreibung von Smiths‘ Stimme passt noch heute: „Die belfert im hämmernden Stakkato, schnappt kurz nach Luft, fährt ab und schafft sich hinauf zu einem infernalischen Heulen. Flüstert. Kitzelt. Zerrt an den Nerven. Schon mal einen akustischen Abgang gehabt? Die Smith schafft das spielend.“ Das Foto zum Beitrag, auf dem Smith, an eine Ziegelmauer gelehnt, den Betrachter mit dunklen Augen anstarrt, tat das Seinige.
Ein Freund hatte „Horses“ dann als Erster. Nach der Schule drei bis vier Halbwüchsige geschart um einen Plattenspieler. Ein für gewöhnlich ziemlich konzentrierter Vorgang. Das Cover in der Hand: ein Schwarz-Weiss-Bild mit einer schmalen, androgyn anmutenden Frau mit ungekämmtem, schwarzem Haar, die ernst und provokant in die Kamera blickt. Zerknittertes Hemd mit ausgefransten Ärmeln, schwarze Jeans und schwarze Hosenträger, über der Schulter hängt ihr schwarzes Jackett. Inzwischen eines der ikonischen Fotos von Robert Mapplethorpe.
Die ersten Töne von „Horses“ trafen mich in Mark und Bein und ließen mich den übrigen Siebziger-Jahre-Sound vergessen. „Jesus died for somebodyʼs sins / but not mine“ – mit einer Stimme vorgetragen, wie ich noch keine gehört hatte. Was bedeuteten der Sängerin diese Worte? Verweigerung des Glaubens, eine Unabhängigkeitserklärung oder brachte Smith das Gefühl, von der Gnade des Gottessohns ausgeschlossen zu sein, zum Ausdruck? Dann die nächsten Stücke: „Redondo Beach“ über lesbische Liebe, das Hartmann – die anscheinend doch noch nicht so aufgeklärten Siebziger lassen grüßen – selbst in pardon mit „warum auch nicht“ kommentierte. Höhepunkt auf Seite zwei „Horses/Land of A Thousand Dances– vom gesprochenen Wort im nahtlosen Übergang zum Gesang und zurück, dass die Fetzen fliegen.
Wer ist diese Patti Smith? 1946 in New Jersey geboren, geht sie mit 20 nach New York, schreibt erste Texte, lebt mit Robert Mapplethorpe zusammen und von der Hand in den Mund. Dann erste Auftritte mit Texten, schließlich begleitet vom Gitarristen Lenny Kaye der Übergang zu Songstrukturen. John Cale (Velvet Underground) produziert den Meilenstein „Horses“. Danach folgen bis 1979 drei weitere Alben, „Radio Ethiopia“, „Easter“ und „Wave“. Auf „Easter“ findet sich Smith einziger Top Ten Hit – „Because the Night“, zusammen mit Bruce Springsteen geschrieben. Für viele unvergessen auch ihr chaotischer Auftritt im ARD-Rockpalast im Frühjahr 1979, insbesondere weil sie auf die Fragen des Moderators Alan Bangs mit schrägen Tönen auf ihrer Klarinette antwortete. Patti Smith war der Rummel um ihre Person offensichtlich zu viel geworden. Nach einem Konzert in Italien Mitte 1979 trat sie, für die Öffentlichkeit überraschend, von der Bühne ab, zog mit ihrem späteren Mann, dem „MC 5“-Gitarristen Fred Sonic Smith nach Chicago und wurde Hausfrau und Mutter zweier Kinder. Außer dem 1988 zusammen mit ihrem Mann geschriebenen Album „Dream of Life“ war nichts mehr von der Künstlerin zu hören.
Dann ereilten Patti Smith mehrere Schicksalsschläge. Nach dem Tod von Robert Mapplethorpe 1989 und ihrem Keyboarder Richard Sohl 1990 starben ihr Bruder und schließlich 1994 ihr Mann an Herzversagen. Patti Smith stand mittellos da. Sie sagte einmal, dass sie dem Song „Because the Night“ immer dankbar wäre – und ihn vielleicht deswegen bis heute spielt –, weil er ihr in dieser schweren Zeit zumindest immer wieder einige Tantiemen einbrachte.
Es war nach 1994 ein Fan, der ihr half, erneut Musik zu veröffentlichen und auf die Bühne zurückzukehren – Michael Stipe, Sänger von REM. Seit 1996 hat Patti Smith sieben Alben veröffentlicht und mehrere Bücher publiziert, darunter „Just Kids“, die auch kommerziell erfolgreiche, mit dem National Book Award ausgezeichnete und sehr lesenswerte Autobiografie über ihre Beziehung zu Robert Mapplethorpe.
Heute ist Patti Smith eine auch vom Feuilleton gefeierte Künstlerin, und sie scheint über allen Klassifizierungen, die man ihr zugeschrieben hat („Godmother of Punk, „Ikone der Frauenbewegung“) zu stehen. Unumstritten ist der Einfluss, den ihre Musik auf die Punk- und New-Wave-Bewegung, auf viele weibliche Pop- und Rockkünstler gehabt hat.
Dem Spiegel sagte Patti Smith kürzlich, Michael Stipe habe, als er „Horses“ zum ersten Mal hörte, das Gefühl gehabt, da spreche jemand direkt mit ihm. Womöglich ging es den Zuschauern, die nun zu Patti Smiths Konzerten anlässlich des 40-jährigen Jubiläums von „Horses“ kommen, seinerzeit ähnlich. Viele sind jedenfalls 50 und älter.
Bei diesen Konzerten spielen Patti Smith und ihre Band das Album in voller Länge – aus der Urbesetzung sind noch Lenny Kaye an der Gitarre und Jay Dee Daugherty an den Drums dabei plus Tony Shanahan (Keyboards und Bass) sowie Jack Petruzelli (Gitarre). Die Songs haben nichts von ihrer Kraft verloren und die Smith, der man die 68 Jahre nicht anmerkt, interpretiert sie mit ihrer markanten Stimme. Einer der Höhepunkt ist das zehnminütige, sich beständig steigernde „Birdland“, halb Free Jazz, halb Beat Poesie. Das letzte Lied von „Horses“ – danach folgen weitere Songs aus Patti Smiths Repertoire – ist „Elegie“, seinerzeit für Jimi Hendrix geschrieben. Heute widmet es die Smith allen Lieben, die das Publikum in den letzten 40 Jahren verloren hat. Und zeigt sich nicht nur dadurch ihren Zuhörern sehr positiv und freundlich zugewandt. Angesichts der für einen Sommertag sehr kühlen zwölf Grad beim Konzert in Köln am 23. Juni äußert sie Sorgen um die Gesundheit derer, die schon so früh für das Konzert angestanden haben, und rät zu einer heißen Dusche und einem guten Tee zu Hause. Schön, wenn man so mit seiner musikalischen Erweckung älter werden kann.