18. Jahrgang | Nummer 14 | 6. Juli 2015

Querbeet (LVII)

von Reinhard Wengierek

Meine Fundstücke im Kunstgestrüpp: Diesmal ein Stück Wienerwald an der Havel, ein Opern-Dreier an der Donau sowie ein Trip in Wien durch „Halb-Asien“…

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„Küss die Hand – krepier!“ So etwa klingt Österreich bei Ödon von Horvàth (1901-1938). In seinem Volksstück „Geschichten aus dem Wienerwald“ blättert er jenseits jeglicher Heurigen-Volkstümlichkeit ein dennoch süffiges, dabei aber entsetzlich buntschillerndes Leporello der Verlogen- und Borniertheit auf. Es ist ein grausig lustiges Geschichtchen-Puzzle aus Kalenderweisheiten und austriakischem Kleine-Leute-Gewusel, das sich da zu einem makabren Comic des Menschendaseins formt: Küss die Hand…
Regisseur Alexander Nerlich offenbart denn auch im Potsdamer Hans-Otto-Theater in aller Drastik das Menschenhässliche, das in dieser Girlande aus Miniaturen der höllisch gemütlichen Kleinbürgerlich-Biedermeierlichkeit steckt. Und vom bravourösen Ensemble wird es mit spielerischer Vehemenz ausgestellt. Doch geht dabei zunehmend unter, dass all das Kleine, Böse, Rohe, dass Niedertracht, Verlogenheit und Gewalt bei Horvàth einher gehen mit der schwelenden Glückssehnsucht seiner Figuren. Die Regie führt uns mit überschäumender Fantasie sehr, sehr viele Facetten vor von der Menschen Abgründigkeit. Doch allein das furiose Wühlen in dieser Abgründigkeit lässt keine Fallhöhen wachsen. Die Figuren kippen und stürzen nicht, sondern sind immerzu mitten drin in ihrer Hölle. Die bei Horvàth ins Tödliche eskalierende Nummernfolge spitzt Alexander Nerlich nicht zu; der Kontrast zwischen den vergeblichen Himmelsstürmereien und grausigen Höllensauereien verblasst – wie die Spannung nachlässt.
Trotzdem: Dieser, mit maßlosem künstlerischem Wollen vollgestopfte Abend hinterlässt ein großes Staunen über viel Talent! Auch und vor allem durch Wolfgang Menardis berückend artifizielles Bühnenbild, das mit enormem Aufwand (leistungsstarke Werkstätten!) eine Vorstadt-Schmiere als sagenhaft versifftes Bühnchen auf der Breitwandbühne zeigt, in dem sich demonstrativ-realer Menschendreck und selig-romantischer Menschentraum verquicken. Da ist der Bühnenbilder dichter dran am Autor als der Regisseur. Dennoch: Eine sehenswerte Sache.

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Vom Wienerwald-Rand ist es mit der Bim 62 (für Piefkes: Bim heißt Straßenbahn) nur eine knappe Stunde bis zur Endstation. Und schon ist man in der Wiener Staatsoper. Es ist das letzte Haus der Premium-plus-Klasse (1.000 Mitarbeiter, die Hälften davon Künstler), das 50 Opern und zehn Ballette pro Saison spielt. Und so kann man beispielsweise an drei Tagen hintereinander (Sonntag, Montag, Dienstag) „Götterdämmerung“, „Salome“, „Fidelio“ gucken – eine singuläre Konzentration; was gleichermaßen zutrifft auf die Dirigenten (Simon Rattle für Wagner, Peter Schneider für Strauß, Adam Fischer für Beethoven) sowie auf die Sänger. Ersparen wir uns, hier die Ballung an Weltstars in den Besetzungslisten zu notieren. Klar, dass da die Bude voll ist bis unters Dach und der Jubel dröhnt. Deshalb auch – und nicht allein durch den Touri-Betrieb – beträgt die alljährliche Auslastung der herrlichen Hütte 99 Prozent, die Eigendeckung durch Kartenverkauf 50 Prozent – alles Weltspitze. Nebenbei bemerkt: In Wien werden im Jahresschnitt täglich 10.000 Karten für Musiktheater und Konzert verkauft, womöglich auch das: Weltspitze!
Bei so viel Spitzen-Getön ist ein Blick auf die Opernregie aufschlussreich. „Götterdämmerung“ (Regie Sven-Eric Bechtolf): Premiere vor etwa zehn Jahren; dekoratives Arrangement der Figuren in praktikabel zeitlos-abstraktem Leer-Raum, die Sänger tun das, was sie immer tun im internationalen Höchstleistungsbetrieb. „Salome“ (Boleslaw Barlog): überraschend dramatische Personenregie in kostbar pompöser, artifiziell-historisierender Ausstattung; die Produktion, womöglich gut drei Jahrzehnte alt, überzeugt aber als wäre sie neu. „Fidelio“ (Otto Schenk): Rumsteh-Theater mit schon peinlich platter Allerwelts-Gestik in naturalistisch-monumentaler Pappkulisse; Premiere vor fast einem Habjahrhundert, wirkt gefühlt mindestens doppelt so alt.
Fazit 1: Es gibt nicht zwangsläufig ein Verfallsdatum für Operninszenierungen (in Deutschland heißt es nach höchstens zehn Jahren „abgespielt“). Und das allgemein gern praktizierte Aufpeppen mit politisch-zeitgeistigem Zierrat macht einen Klassiker noch lange nicht zeitgenössisch. Entscheidend bleiben (was oft vergessen wird) die Wucht des Musikalischen aus dem Orchestergraben sowie die dramatische Stimmgewalt der Sänger.
Fazit 2: Die Wiener Staatsoper setzt vornehmlich auf Stimmgewalt und Orchesterklang, immerhin triumphiert auch im so hölzern arrangierten „Fidelio“ die Musik. Deshalb hält man selbst fade, doch musikalisch potente Inszenierungen extrem lange im Repertoire (dessen spektakuläre Bandbreite anders auch nicht möglich wäre). Man investiert sehr viel Geld ins Beste, was musikalisch weltweit zu haben ist, und eher wenig ins Inszenatorische mit angesagten, gleichfalls enorm kostspieligen Regie-Ingenieuren. Das Primat haben hier Vielfalt des Angebots und musikalische Höchstleistung. Es ist nicht zu sehen, dass man im ruhmreichen Haus damit sonderlich falsch liegt.

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Der Dichter Joseph Roth aus dem galizischen Brody nannte seine Heimat ein „Zwischenreich“; andere sagten nüchtern „Halb-Asien“. Tatsächlich war Galizien Österreichs Armenhaus. Industrialisierung und Modernisierung kamen spät und langsam; wobei der polnische Westen (Krakau) und der ukrainische Osten (Lemberg) des Kronlandes weit auseinander klafften. Lemberg wurde zum „östlichen Ausläufer der alten kaiserlich- königlichen Welt“ (Roth); Krakau blieb zurück und galt als „Refugium des Polentums“. In diesen Gegensatz mischten sich weitere; so standen den Ukrainern, die mehrheitlich Bauern waren, die polnischen Großgrundbesitzer gegenüber. Beide Ethnien rangen um Vorherrschaft, und die Österreicher mischten nach eigenem Interesse kräftig mit – stützten die Ukrainer, schürten deren Aufstände gegen die Polen. Da fordern polnische Plakate den „Tod der alten Hexe Österreich“, und die Juden Lembergs werden auf Deutsch aufgerufen, sich gegen Pogrome der Polen zu wehren. Die Sonderausstellung „Mythos Galizien“ des Wien-Museums am Karlsplatz erzählt von diesen Konflikten in wechselnden Perspektiven – aus Sicht der Österreicher, Polen, Ukrainer, was die (bis heute) komplizierte Lage in der Region sonderlich aufschlussreich umreißt.
Galizien war fast so groß wie das heutige Österreich; seine Hauptstadt Lemberg um 1900 die viertgrößte Stadt der Donaumonarchie. Entstanden ist das künstliche Gebilde in Folge europäischer Machtpolitik: Nach der ersten polnischen Teilung 1772 annektierte es Maria Theresia als habsburgisches Kronland, nur, um den Preußen und Russen nicht alles zu überlassen. Für den „guten Kaiser“ Joseph II. war es dann ein „zu zivilisierendes Territorium“, das Bodenschätze hergab (um 1900 galt es durch seine Ölvorkommen als „österreichisches Texas“); obendrein lieferte es massenhaft Rekruten. Hier sprach man Polnisch, Ukrainisch, Jiddisch, Deutsch, war römisch-katholisch, jüdisch, griechisch-katholisch. Doch der schwelende Traum vom multikulturellen Arkadien wurde immer wieder vernichtet von den sozialen Widersprüchen sowie denen zwischen Nationalitäten und Religionen, die wiederum politisch instrumentalisiert wurden. Im großen Krieg gegen das Zarenreich starben schließlich Hunderttausende ungeachtet aller Unterschiede; aus Galizien wurde ein einziges Schlachtfeld.
Roths „Zwischenreich“ verschwand mit dem Zerfall der Monarchie von der Landkarte (und wurde schon zwei Jahrzehnte später wieder zum großen Feld des Zerstörens und Menschenmordens); als Mythos jedoch hat Galizien alle blutigen Wirren überlebt. Ihn imaginiert (vornehmlich durch viele packende Filmdokumente) das Wiener Stadtmuseum. Der Ausstellungsbesuch gleicht einer große Reise quer durch dieses versunkene, wehmütig geliebte und besungene und schmerzvoll betrauerte Land, das freilich als Territorium fort existiert in den heutigen Staatsgrenzen Polens und der Ukraine. Bei dieser imaginären Tour wird aber auch deutlich, wie sehr und unheimlich sich das Vergangene ins Gegenwärtige mischt. Was sich – kyrillisch, lateinisch – bis ins Gästebuch der Ausstellung spiegelt. Galizien, ein ewig schwieriges Thema; ob Mythos oder Realität – immer „dazwischen“.