von Julius Berrien
26.05.2015, 17 Uhr. Vor der Urania in Berlin hat sich eine Gruppe von Demonstranten versammelt, viele davon sitzen in Rollstühlen. Auf ihren Transparenten stehen Sprüche wie „The Most Good You Can Do… Shut Up!!!“ oder „Euthanasia No!“
Drinnen in der Urania soll heute Prof. Peter Singer mit einem eigens nach ihm benannten Preis für seine Verdienste um den Tierschutz geehrt werden. 1975 hatte Singer mit seinem vielbeachteten Buch Animal Liberation die philosophischen Grundlagen für die moderne Tierrechtsbewegung geschaffen. Die Speziesgrenze bilde keine rationale Grundlage für eine ethische Ungleichbehandlung, argumentierte er – und revolutionierte damit das ethische Verständnis unseres Umgangs mit Tieren.
Es sind jedoch ganz andere Thesen, die die wütenden Proteste vor dem Veranstaltungszentrum provoziert haben. Peter Singer forscht zu Fragen der Bioethik, jenes Teils der Philosophie, der sich auch mit ethischen Implikationen von Euthanasie und Schwangerschaftsabbruch auseinander setzt. In seinem Werk Praktische Ethik argumentierte Singer, in gewissen Fällen sollten Eltern das Recht haben, selbst zu entscheiden, ob ihr todkranker oder schwerbehinderter Säugling am Leben bleiben soll, sofern keine Heilungschancen bestünden und sich für die Eltern Belastungen ergäben.
Denn ein Säugling bis achtundzwanzig Tage nach der Geburt sei geistig auf der gleichen Stufe wie ein Fötus vor der Geburt. Wenn es erlaubt sei, ein Kind bis kurz vor der Geburt abzutreiben (wie es bei der Spätabtreibung Behinderter auch in Deutschland der Fall ist!), dann dürfe auch bei unheilbar kranken Säuglingen, um Leiden zu vermindern, der Tod durch Medikamente herbeigeführt werden.
Seitdem gilt Peter Singer für manche als „Tötungsphilosoph“ und „Behindertenfeind“. Verschiedene Behindertenverbände und Vertreter politischer Parteien liefen Sturm gegen Singers Auftritte und die Preisverleihung in der Urania. Ulla Schmidt (SPD) schrieb, die Preisverleihung an Singer lasse „jede Sensibilität für die Gleichwertigkeit menschlichen Lebens, für die Gleichheit der Menschen vermissen.“ Hubert Hüppe (CDU) rückte den Sohn einer jüdischen Familie, die vor dem Holocaust fliehen musste, in die Nähe des Nationalsozialismus. Katrin Werner von Die Linke forderte die Urania auf, den Auftritt Singers nicht zuzulassen und Corinna Rüffer (Grüne) soll einen „Aufstand der Anständigen“ gefordert haben.
Wohl unter solchem Druck, sagte einer der geplanten Festredner, Michael Schmid-Salomon, kurz vor der Preisverleihung seine Teilnahme ab. Auch Philcologne in Köln, die mit Prof. Singer die Diskussionsveranstaltung „Retten Veganer die Welt?“ geplant hatte, sollte die Sache zwei Tage später zu heiß werden. Der Auftritt wurde ebenfalls abgesagt, weil eine sachliche Diskussion unter den gegenwärtigen Umständen nicht möglich sei.
Die Auseinandersetzung mit Singers Thesen zwingt uns meiner Ansicht nach dazu, grundlegende Fragen zu unserem Umgang mit Behinderungen und Abtreibung zu stellen.
Wenn es unrecht ist, dass Eltern sich gegen einen unheilbar kranken oder schwerstbehinderten Säugling entscheiden, warum dürfen dann mit Mitteln der pränatalen Diagnostik Behinderungen schon im Mutterleib diagnostiziert und der werdenden Mutter eine Abtreibung angeboten werden?
Wie kommt es, dass von derselben Plattform, die zur Kundgebung gegen Peter Singer aufrief, noch kurz zuvor Kampagne für das Recht auf Abtreibung gemacht wurde?
Laut statistischem Bundesamt gab es 2006 in Deutschland 183 Spätabtreibungen. Diese Zahl steigerte sich bis 2013 noch einmal um 307,1 Prozent. Nach der Diagnose Down-Syndrom brechen 90 Prozent der Frauen die Schwangerschaft ab. Ist das nicht vorgezogene Euthanasie?
Die rechtliche Ungleichbehandlung desselben Wesens innerhalb und außerhalb des Mutterleibes ist eine ethische Mogelpackung, mit der wir viel zu lange der unbequemen Wahrheit ausgewichen sind, dass jede Abtreibung die Tötung eines Menschen bedeutet. Ein irrationaler Kunstgriff, den wir nur aus Gründen unseres eigenen emotionalen Komforts machen.
Es ist für unser Alltagsempfinden unverdaulich, über die Tötung eines bereits geborenen Kindes nachzudenken, während die Abtreibung eines bisher unsichtbaren Kindes im Mutterleib psychisch leichter zu verkraften ist.
Auch unsere Sprachregelung spiegelt diese verstandeswidrige Ausdifferenzierung wider und verschleiert sie gleichzeitig: Bis zur Geburt nennt man das Menschenwesen „Fötus“. Erst danach spricht man von einem Menschen, einer Person.
Der Umstand, dass ein 25 Wochen altes Frühgeborenes als Person gilt, ein 30 Wochen altes Kind, das sich noch im Mutterleib befindet, hingegen nicht, zeigt die absolute Irrationalität, mit der in Deutschland bioethische Fragen behandelt werden.
Dies hat perverse praktische Konsequenzen. In Deutschland gab es Fälle, in denen Babys in Übereinstimmung mit geltendem Recht zuerst mit einer Säurespritze abgetrieben werden sollten, ihnen nach fehlgeschlagener Abtreibung vom Arzt jedoch um jeden Preis Erste Hilfe geleistet werden musste. Mit dem Resultat, dass das kleine Menschenwesen nur noch mehr gequält wurde.
Wenn Singer kritisiert, dass unheilbar kranke Säuglinge durch den unreflektierten Einsatz von medizinischen Apparaten am Leben gehalten werden, obwohl ihr Tod gar nicht verhindert werden kann, beweist er humanistisch-emanzipatorischen Geist.
Wenn seine Thesen nahelegen, dass der Tod schmerzlos durch die Gabe von Medikamenten herbeigeführt werden sollte, anstatt die Apparate abzuschalten und den Säugling langsam und qualvoll von selbst sterben zu lassen, weist ihn das als mitfühlenden Denker aus.
Nun wird gelegentlich vorgebracht, es stehe niemandem zu, die Entscheidung über Leben und Sterben eines Menschen zu fällen. Nur fällt die Gesellschaft bereits solche Entscheidungen. Etwa wenn es darum geht, ob bei einem Komapatienten eine teure Operation durchgeführt wird, oder nicht. Ob ein begrenzter Forschungsetat in die Aids-Forschung oder stattdessen in die Krebs-Forschung investiert werden soll. Einen modernen Philosophen zu dämonisieren, weil er rational und ohne emotionale Aufgeregtheit über solche Entscheidungsprobleme nachdenkt, ist heuchlerisch.
Die linken Protestierenden und Behindertenverbände sollten sich ferner Gedanken machen, vor wessen Wagen sie sich spannen lassen. Hinter den Bestrebungen, Peter Singer hierzulande unmöglich zu machen, stecken zum Teil gesellschaftliche Kräfte, welche nicht aus Gründen des Mitgefühls mit Behinderten, sondern aus religiösem Dogma heraus Stimmung gegen Abtreibung und Sterbehilfe machen.
Auf der Peter-Singer-Preisverleihung kamen auch Vertreter von Behindertenverbänden zu Wort. Johannes Igel, selbst Contergan-Opfer, beklagte, die Anti-Singer-Ideologen nähmen die Belange von Behinderten nicht ernst, sondern wollten sie für ihre eigenen Zwecke instrumentalisieren.
Gerhard Steier vom Bundesverband Lebensrecht, eigentlich Singer-Kritiker, thematisierte die Heuchelei von Politik und Demonstranten: „Embryos werden zu Schönheitscreme verarbeitet, behinderte Babys werden nach der Geburt in Holland und bei uns vor der Geburt mit der Säurespritze ins schlagende Herz getötet. Und wir nennen es vornehm Fetozid. Keine Partei im Bundestag will daran etwas ändern.“
Peter Singer hält mit seinen Schlussfolgerungen unserer Gesellschaft den Spiegel vor. Wir müssen seine Annahmen nicht teilen. Doch nur, wer gegen Abtreibung kämpft, kann Singer kritisieren, ohne sich in Widersprüche zu verwickeln. Man kann nicht mit der gleichen Stimme „Singer raus!“ rufen, mit der man lauthals das Recht auf Abtreibung gefordert hatte.
Schlagwörter: Euthanasie, Julius Berrien, Peter Singer, Schwangerschaftsabbruch, Tierrechte