von Wolfgang Brauer
Sie können es nicht lassen. Zeitlebens schubberten sich an Günter Grass die Soldschreiber des deutschen Mittelmaßes. Mit seinem Tode hat sich das mitnichten geändert. Das Mittelmaß duldet nichts, was über es selbst hinausragt. Der Deutschen liebste Hecke ist der penibel beschnittene Liguster. „[…] vieles von dem, was in den siebziger und achtziger Jahren erschien, reichte nicht heran an seine genialische Frühzeit“, verurteilte Grass dieser Tage ein gewisser Ulrich Rüdenauer in der ZEIT. Damit war der Kammerton von Dutzenden ähnlicher Texte vorgegeben.
Das muss man sich auf der Zunge zergehen lassen: Literarisch gilt dem Verreißer – einen Nachruf sollte er offenbar schreiben – nur das „Frühwerk“. Damit ist die „Danziger Trilogie“ gemeint, die aus den Romanen „Die Blechtrommel“ (1959), „Katz und Maus“ (1961) sowie „Hundejahre“ (1963) besteht. Genialisch ist nicht genial. Der „Duden“ schlägt zwei Bedeutungsebenen vor. Beide sind nicht unbedingt herzerwärmend. Das „Genialische“ tendiere zum Genialen – der Abstand bleibt; oder es missachte in seinem Auftreten in „oft exaltierter Weise“ das Konventionelle. Das wäre die Verurteilung. Da will einer auf geradezu unverschämte Weise anders sein („Indem ich mir glich, glich ich euch – und nur so!“, protestierte der von Grass durchaus geschätzte Johannes R. Becher gegen die Anmaßungen des Mittelmaßes.) – und das geht nun gar nicht!
Übrigens wurde auch „Die Blechtrommel“ nach ihrem Erscheinen von westdeutschen Literaturpäpsten als „teilweise blasphemisch“ und obszön (Heinrich Vormweg) gegeißelt. Glücklicherweise schrieb Grass über das verloren gegangene Danzig, nicht über Hamburg oder Rostock. Völlig missverstanden begünstigte dies die Aufnahme des Buches in der alten Bundesrepublik. In der DDR hingegen landete es, auch durch die Wahl von Ort und Sujet bedingt, in den Giftschränken germanistischer Fachbibliotheken. Der Handlungsort wiederum sorgte dafür, dass der Roman im Westen in eine Reihe mit den Werken von James Joyce, Marcel Proust und William Faulkner gestellt wurde. Die hatten ihrerseits Städte, die es ihnen lange Zeit mitnichten dankten, in die Annalen der Weltliteratur gewuchtet.
Gdańsk wiederum dankte es Grass. Seit 2009 gibt es dort ein Günter-Grass-Museum. Die Stadt beteiligte sich trotz Aufforderung durch Lech Wałęsa nicht an der großen Hatz, die gegen den Schriftsteller veranstaltet wurde, nachdem dieser 2006 im Vorfeld der Veröffentlichung seines immer noch stark unterschätzten Erinnerungsbuches „Beim Häuten der Zwiebel“ seine Mitgliedschaft in der Waffen-SS-Division „Frundsberg“ am Ende des Krieges eingeräumt hatte. Wer sich erinnert: Es ging förmlich ein erleichtertes Aufstöhnen durch den deutschen Blätterwald, „endlich, auch der …“ Man meinte, sich dieses Künstlers, der zu einer nicht nur durch den Literatur-Nobelpreis scheinbar sakrosankten Figur wurde, nunmehr entledigen zu können. So etwas brennt sich nicht nur weniger sensiblen Seelen ein. Und Günter Grass hatte einen gut funktionierenden Ortungssinn für die verlogenen Untiefen des bundesdeutschen Feuilletons.
Der schon zitierte Rüdenauer meinte, noch in der Gedenkrede für Christa Wolf vom Dezember 2011 den Vorwurf der „Niedertracht“ an die gesamte journalistische Zunft herauslesen zu können. Niederträchtig ist allerdings sein – und nicht nur sein! – Ignorieren der großen Romane nach der „Danziger Trilogie“. Für mich bleibt „Die Rättin“ (1986) „mit seiner (des Autoren – Anmerkung W.B.) tief verzweifelten Ratlosigkeit angesichts des unausweichlich nahen Atomtod-Endes, das sich die Menschheit gerade zubereitet“ (Joachim Kaiser), eines der wesentlichen Bücher des 20. Jahrhunderts. Das betrifft auch die Novelle „Im Krebsgang“ (2002), in der Grass vermittels der Geschichte der „Wilhelm Gustloff“ die Kontinuität faschistischen Denkens in Deutschland offenlegt: „Das hört nicht auf. Das hört nie auf.“ Ich schreibe diese Zeilen am 20. April, also „Führers Geburtstag“. In wenigen Stunden wird die NPD aus diesem Anlass nicht allzuweit entfernt von dem Haus, in dem ich wohne, durch Berlin marschieren. Die Staatsgewalt wird alles tun, um deren Grundrecht der Versammlungsfreiheit durchzusetzen.
Nicht minder erledigt hat sich, meine ich, sein Wende-Roman „Ein weites Feld“ (1995). Grass verwob in ihm auf gelegentlich durchaus verwirrende Weise Theodor Fontanes Bilanz der ersten mit Waffengewalt hergestellten Reichseinheit 1871 mit der eigenen Bilanz der durch Geldgewalt hergestellten zweiten Reichseinheit 1989. Beide Befunde sind vernichtend. Zudem maßte er sich an, die DDR als „relativ kommode Diktatur“ zu bezeichnen. Unerhört!
Ist es das, was die selbsternannten „Qualitätsmedien“ unter dem Lack der Lobeshymnen so auf Abstand zu Günter Grass hält? Ehrlicher war da schon die „kritische Reaktion westdeutscher Feuilletons mit Ausbrüchen maßlos gesteigerter Wut“ auf „Das weite Feld“, wie sie Grass in seinem Werkstattbericht „Fünf Jahrzehnte“ (2001) beschreibt: „[…] diesmal ging es mit erwachsenem Kalkül zu: das Magazin ‚Der Spiegel’ zeigte auf seiner Titelseite einen als namhafte Person erkennbaren Wüterich, der meinen Wälzer – immerhin 800 Seiten stark – mit deutlich zur Schau getragenem Vernichtungswillen zerriß.“
Kulturstaatsministerin Monika Grütters (CDU) stellte Günter Grass am Tage nach seinem Tode auf eine Stufe mit dem Nationalheiligen J. W. Goethe. Grütters wusste, was sie tat. Wer einmal in Walhalla aufgenommen wird, der ist für die Forderungen des Tages erledigt. Man kann auch mit ewigem Nachruhm töten. Grass hat das nicht verdient. Seine Bücher gehören gelesen, sie gehören in die Schulbibliotheken. Aber die werden ja auch sukzessive abgeschafft …
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Schlagwörter: Günter Grass, Wolfgang Brauer