von Peter Linke, Moskau
Die BRD aus einem Zuwanderungsland zu einem Einwanderungsland zu machen, in dem das Fremde nicht vordergründig als Problem, sondern als Chance begriffen wird, ist eine der größten Herausforderungen, vor denen die deutsche Gesellschaft steht. Die bislang im Umgang mit Fremden verfolgten Konzepte erweisen sich dabei zunehmend als kontraproduktiv.
Dies gilt insbesondere für das Konzept der „multikulturellen Gesellschaft“. Ende der 1980er Jahre vom damaligen Generalsekretär der konservativen CDU, Heiner Geißler, in die politische Debatte eingebracht, erregte es von Anfang an die Gemüter: Während es die einen als neue gesellschaftliche Idylle feierten, warnten andere vor einer wertebeliebigen Multikulti-Attitüde, die vor allem der Entwicklung soziotoxischer Parallelgesellschaften Vorschub leiste … Bewegt man sich heute durch die BRD, so könnte man meinen, die Kritiker hätten nicht nur Recht behalten, sondern ein halbwegs friedfertiges Leben zwischen Menschen verschiedener Kulturen sei prinzipiell nicht möglich. Doch so hoffnungslos ist es nicht …
Bereits 1997 kritisiert der Philosoph Wolfgang Welsch Multikulturalität und Interkulturalität nach Johann Gottfried Herder als in sich geschlossene und homogene Kugelsysteme, die nicht kommunikationsfähig seien, sondern „einander nur stoßen können“ … Interkulturalität versuche, dieses Nebeneinander von Kulturen zu durchbrechen und einen Austausch zwischen ihnen zu erreichen. Gleichwohl blieben auch hier Kulturen fixierte Größen, die jeweils von ihrer „Insel-Lage“ aus interagierten … Dem Kugelmodell der Multikulturalität und Interkulturalität stellt Welsch sein Verflechtungsmodell der Transkulturalität gegenüber: die Möglichkeit, dass die Begegnung zweier unterschiedlicher Kulturen tendenziell zu einer Verwischung von Grenzen führt. Dabei entstehe jedoch keine uniforme Globalkultur, sondern es formierten sich Individuen und Gesellschaften, die infolge horizontaler und vertikaler Verflechtungen transkulturelle Elemente in sich tragen … Wichtig ist Welsch das Erkennen der „fremden“ Elemente in uns: Unsere Identität bestehe auch aus „fremden“ Elementen, erst wenn uns diese Fremdheit bewusst sei, erkennen wir auch die Ähnlichkeiten mit äußeren Fremdheiten…
2007 konstatiert die türkisch-deutsche Anwältin Seyran Ateş, in Deutschland sei es versäumt worden, „die multikulturelle Gesellschaft als politisches Konzept zu verstehen und umzusetzen. Ich bin mir nicht mehr sicher, ob ich das ernsthaft bedauern soll. Denn wo wären wir angelangt, wenn wir das getan hätten? In den USA wurde das Konzept der multikulturellen Gesellschaft umgesetzt. Was dabei herausgekommen ist, scheint mir nicht erstrebenswert.“ Die bekannte Frauenrechtlerin plädiert für eine transkulturelle deutsche Gesellschaft im Orbit einer „europäischen Leitkultur“, basierend auf westlichen Wertevorstellungen (Kulturpluralismus, Wertekonsens …).
Für den japanischen Literaturwissenschaftler Arata Takeda ist das keine wirklich tragfähige Vision: Kulturelle Vielfalt, ja – sofern sie gleichheitlich und nicht hierarchisch gemeint sei. „Kulturelle Vielfalt mit einer leitenden Kultur an der Spitze und mehreren Satellitenkulturen um sie herum wäre nicht gleichheitlich.“ Der in Deutschland lebende und arbeitende Takeda warnt vor der gedankenlosen Verwendung liebgewonnener Bilder im interkulturellen Dialog: „Wenn wir z.B. […] verkünden, wir wollen zwischen den Völkern Brücken schlagen oder die Gräben zwischen Kulturen überwinden: wirkt da nicht die traditionelle Vorstellung von Kulturen als Inseln weiterhin hartnäckig nach? Vielleicht gibt es gar keinen Fluss, der überbrückt werden müsste; vielleicht gibt es auch gar keinen Graben, der uns und uns voneinander trennen würde. Während wir die Brücken bauen, fließen unter ihr die Völker wie Wassermassen zusammen, und während wir Gräben zuzuschütten meinen, schütten wir auf dem Flachland der Kulturen Erdwälle auf.“ Ganz besonders jedoch reibt sich Takeda an der vermeintlichen „Verwurzelung des Menschen“ als dessen Existenzvoraussetzung: „In [Franz] Kafkas Text Die Bäume [1908] … werden Menschen mit Bäumen bzw. Baumstämmen verglichen. Die Verwurzelung der Baumstämme gerät dabei ins Zwielicht: Denn wir sind wie Baumstämme im Schnee. Scheinbar liegen sie glatt auf, und mit kleinem Anstoß sollte man sie wegschieben können. Nein, das kann man nicht, denn sie sind fest mit dem Boden verbunden. Aber sieh, sogar das ist nur scheinbar. – Die hier angedeutete Entwurzelung des Menschen muss nicht die ‚prinzipielle […] Daseinsverfehlung des Menschen’ signalisieren; sie kann im Gegenteil die auf die prinzipielle Beweglichkeit ausgerichtete Daseinsvoraussetzung des Menschen bedeuten. Alle Reflexion über Identität und Differenz wird sich demnach am ‚Bewusstsein ihrer eigenen Vorläufigkeit’ messen lassen müssen, das zugleich die Beweglichkeit von Identität und Differenz anerkennt.“
Mit derartigen Überlegungen kommt Takeda dem theoretischen Kern des Welschen Transkulturalismus-Konzepts ganz nah: der Idee transversaler Vernunft: der Vorstellung von Subjektwerdung nicht dank einer vertikalen Hyperinstanz, sondern des Zusammenspiels horizontal bestehender Subjektanteile, der Betonung ihrer Durchlässigkeit und Übergangsfähigkeit, die wiederum sowohl externe als auch interne Pluralität ermögliche …
Die Relevanz eines solchen Ansatzes für die Entwicklung zum Beispiel eurasischer Denkfiguren lässt sich nur schwer bestreiten: Identitätsfindung im postsowjetischen Eurasien erfordert Neugierde und Mut. Eurasien braucht eine komplex-dynamische Pluralität, wie sie nur aus einer postmodernen Denkhaltung erwachsen kann. Das Potential dazu ist vorhanden; dies bestätigen sowohl Anhänger als auch Kritiker der eurasischen Idee … Eurasien ist mehr als eine historische Fabel. Und es ist definitiv mehr als ein Projekt regionaler wirtschaftlicher Integration. Eurasien ist unser aller Zukunft …
Die Überlegungen zu Eurasien werden in einem Folgebeitrag näher beleuchtet werden.
Schlagwörter: Arata Takeda, Eurasien, multikulturelle Gesellschaft, Peter Linke, Transkulturalismus, Wolfgang Welsch