17. Jahrgang | Nummer 26 | 22. Dezember 2014

Rote Sterne auf schwarzem Grund…

von Jonas Bokelmann

Die altbayerische Provinz ist wohl kaum, was man eine linke politische Landschaft nennen könnte, halbherzig separatistisch zwar, aber deshalb schon das Katalonien Deutschlands? Eher nicht! Selten ist sie Gegenstand emotional geführter Meinungsstreits und noch viel seltener steht sie im Mittelpunkt linker Geschichtsschreibung. Klar richtet sich das Augenmerk zu bestimmten Jahrestagen auf die Münchner Räterepublik mit ihren Ausläufern bis ins Dachauer Hinterland und, freilich wissen auch Spätgeborene noch die Hieroglyphe „WAA“ Wackersdorf zuzuordnen, einer Art Oberbegriff für „großes Festival langer Haare und Bärte“ und Feldschlachten mit Ordnungshütern in Polaroid.
Kennzeichnend für eine solch flüchtige Betrachtung der Materie ist, dass die Region Kulisse bleibt, dass die Wechselwirkung zwischen den bundesdeutschen Kämpfen und den örtlichen politischen Konfliktlinien aus dem Blick gerät. Sicher gibt es Ausnahmen, Texte, die versuchen, den ruralen politischen Verhältnissen in Bayern dadurch tiefer auf den Grund zu gehen, dass sie die politischen Entwicklungslinien über einen längeren Zeitraum verfolgen und dabei den unterschiedlichen Akteuren vor Ort Rechnung tragen, etwa Jaromír Balcars 2004 erschienene Gesamtschau „Politik auf dem Land. Studien zur bayerischen Provinz 1945 – 1972“.
Man könnte jedoch auch Max Bryms „Es begann in Altötting“ in diese Tradition stellen, was verwundern mag, bringt sein Büchlein es mit 166 Seiten nur auf einen Bruchteil der Seitenzahl von Balcars Opus und handelt es sich hier erklärtermaßen um einen autobiographischen Roman, nicht um eine geschichtswissenschaftliche Studie. Den signifikanten Unterschieden und unterschiedlichen Ansprüchen zum Trotz kann Bryms Text Balcars Werk das Wasser reichen, insofern er lokale Einzelerscheinungen und Sonderentwicklungen im Zusammenhang mit regionalen Machtverhältnissen, überkommender politischer Kultur und sozioökonomischen Verhältnissen erklärt. Da Brym einen Bogen von den 1960er Jahren bis in die Gegenwart spannt, kann man in seinem kleinen Roman ein Nachschlagewerk für politisch Aktive im schwarzen Universum sehen; wer beispielsweise plant, mit einer politisch-missliebigen Liste zu den Stadtratswahlen einer oberbayerischen Landgemeinde anzutreten, sollte sich vorher das Kapitel „Unterschriften und andere Hürden“ zu Gemüte führen, um über das ausgewachsene Repertoire an schikanösen Prozeduren der Stadtoberen im Bilde zu sein. Wenn „Es begann in Altötting“ also in der Tat ein Handbuch für Politik auf dem Land ist, so eines mit Kartenteil. Im Laufe der Lektüre entstehen vor dem inneren Auge nämlich tatsächlich so etwas wie zeithistorische Stadtpläne Altöttings und Waldkraiburgs, mit Klöstern, in denen nach dem Krieg ehemalige KZ-Häftlinge Aufnahme fanden, die aber auch monatelang klerikal-faschistische Kollaborateure versteckten, mit Gasthäusern, in denen nach 1945 vorübergehend „Displaced Persons“ unterkamen und in denen es später auf Bürgerversammlungen zu Show-Downs zwischen gestandenen Honoratioren und Jungkommunisten kam und vielen anderen Erscheinungen. Als Leser bekommt man so einen immer deutlicheren Eindruck der Verhältnisse vor Ort und von der politischen Geographie Oberbayerns, geprägt etwa von den Wackerwerken in Burghausen oder dem Eisenbahnknotenpunkt Mühldorf, der zeitweilig Ausgangspunkt schlagkräftiger Gewerkschaftsgruppen war.
Die politische Landkarte, die hier gezeichnet wird, ist eine linke und „Es begann in Altötting“ ein dezidiert parteiliches Buch. Schonungslos beleuchtet der Autor den auch in Oberbayern greifbaren Zusammenhang von faschistischer Gewaltherrschaft und ökonomischen Interessen, dessen skandalöse wie effektive Verdrängung im Zeichen von altbayerischer Herrlichkeit, beflissenem Wiederaufbau und Vertriebenenkitsch, sowie das Fortwirken der Allianz von Gewalt und Profit in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts in Gestalt prügelnder Pädagogen und strammer Betriebsfürsten bei andauernder Gleichgültigkeit gegenüber dem Leid Schwächerer. Passagen, in denen Brym von den enormen Schwierigkeiten berichtet, das „KZ Mettenheim“ zurück ins kollektive Gedächtnis zu holen, oder in den 1980er Jahren illegale Waffenlieferungen der „WASAG Aschau am Inn“ an den Irak und den Iran an die Öffentlichkeit zu bringen, lassen gerade vor diesem Hintergrund tief blicken.
Was Bryms Buch für heute Politisierte so lesenswert macht, ist, dass er dieser politischen Tristesse zum Trotz niemals die Möglichkeiten, gegen diese anzugehen, unter den Tisch fallen lässt. Anders als bei einem anderen Stück jüngster Altötting-Literatur, Andreas Altmanns „Das Scheißleben meines Vaters, das Scheißleben meiner Mutter und meine eigene Scheißjugend“ der Fall, unterstreicht Brym, dass es auch in Altötting und Umgebung andere Ansatzpunkte zum Widerstand gab, als den rein individuellen Ausbruch. Ausgehend von seinen eigenen Erfahrungen, legt er dabei das Augenmerk besonders auf die organisierte Arbeiterbewegung und die kommunistische Linke vor Ort und macht anhand des Beispiels der letztlich erfolgreichen Kampagnen in Sachen Mettenheim und WASAG deutlich, dass man dazu beitragen konnte, Dinge zu ändern, gerade dadurch, dass man sich eben nicht an die örtliche angepasste Sozialdemokratie anbiederte, sondern auf radikalen Standpunkten beharrte. Das Buch ist dabei jedoch keine platte Abrechnung mit dem politischen Gegner oder eine Apologetik bestimmter kleiner Politgruppen. Ganz im Gegenteil merkt man jeder Zeile des Textes das Bemühen um eine differenzierte Betrachtungsweise an. Diese unterliegt nicht nur dem Blick auf lokale polit-ökonomische Verhältnisse, zum Beispiel der Dominanz des Klein- und Mittelunternehmertums, dem einerseits, wegen der Nähe der Besitzenden zu den Menschen vor Ort, mit journalistischen Enthüllungen Verbesserungen abzutrotzen war, das sich aber aus dem gleichen Grund auch leichter als andernorts tat, seine Machtstellung als Gebieter über die Fabriken und Maschine zu kaschieren. Das betrifft auch die vielen linken Gruppierungen, für die sich der Verfasser in seinem Leben engagiert hat und den Protagonisten selbst.
Der Gang durch die Brymsche Lebensgeschichte ist dabei auch deshalb reizvoll, da das politische Feld bei ihm einmal nicht als Jammertal erscheint, von dem der Aktive außer Mühsal und Enttäuschungen nichts zu erwarten hat: In einem fort begegnen einem stattdessen skurrile Gestalten wie Krankschreiberärzte, Provinzpaschas und verschiedene politische Rumpelstilzchen, kommt es zu bizarren Szenen, wie der einer Gruppe bayerisch-parlierender Arbeiterbündler, die sich im Zuge eines Reenactments des „Wählt Thälmann!“-Wahlkampfes 1932 gegenüber realen Hamburger Hafenarbeitern angesichts der Verständigungsschwierigkeiten alle Mühe geben mussten, nicht aus der Rolle zu fallen. Immer mehr entsteht im Kopf das Bild Waldkraiburgs als einer dynonischen Polis, in der rote Teufel bajuwarischen Jupitern kräftig an den Bärten ziehen und eröffnen sich der Leserschaft zum Tanze gebrachte Verhältnisse. Sicher, einiges an dem, was da vor den Augen des Lesers entsteht, dürfte der schriftstellerischen Gestaltungsfreude und dem nostalgischen Blick auf die eigene Jugend geschuldet sein und linke Politik im ländlichen Bayern war insgesamt kein harmloses Bauerntheater. Doch und gerade deshalb ist es eine so legitime wie hoffentlich wirkungsvolle literarische Verfahrensweise bei der Darstellung der oftmals tristen Realitäten, über die Form etwas von dem guten Leben vorwegzunehmen, für welches man kämpft.
Aus der Lebensfreude, die jede Zeile durchdringt, und der Grundsympathie Bryms für sein Figurenensemble schöpft das Buch utopische Qualität.

Max Brym: Es begann in Altötting, SWB Media Publishing, Stuttgart 2014, 166 Seiten, 11,80 Euro.

Jonas Bokelmann studierte Komparatistik, Skandinavistik und Geschichte. Er lebt in München.