von Liesel Markowski
Konzerte unter seiner Leitung gehören gegenwärtig ganz sicher zu den nachdrücklichsten Musikerlebnissen: Michael Gielen, Senior in den Achtzigern, bringt nicht nur tief dringende Erfahrung und Kompetenz mit aufs Podium. Er fasziniert zugleich durch äußerste gestalterische Konzentration und emotionale Lebendigkeit, die seine Interpretationen geradezu zündend aktuell werden lassen. Fern jeder starren Altersweisheit erklingen die von ihm ausgewählten Musiken gleichsam direkt für Hörer von hier und heute. Dabei macht Gielen es seinem Publikum keineswegs leicht, er fordert vielmehr heraus, sich Unbekanntem, vielleicht sogar Fremdem, zu nähern und neue Hörerfahrungen zu gewinnen.
Beim jüngsten Abonnement-Abend der Berliner Staatskapelle wurde dies mit einem interessanten und anspruchsvollen Programm geboten. Stücke von Charles Ives, Bernd Alois Zimmermann und Beethoven vereinten Kontraste der historischen Entwicklung orchestraler Instrumentalmusik. Sicher weithin unbekannt dürfte immer noch Charles Ives (1874-1954) sein. Der Amerikaner, den Arnold Schönberg „einen großen Mann“ genannt hat, gehört zu den merkwürdigsten Musikerpersönlichkeiten des vergangenen Jahrhunderts. Erfolgreicher Geschäftsmann eines Versicherungsunternehmens und zugleich Freizeitkomponist, überraschte und schockierte er seine Zeitgenossen durch eine unbequeme Tonsprache, die nicht nur Klang- und Geräuschelemente der Avantgarde vorausnahm, sondern auch künstlerischen Entdeckungen auf der Spur war. Nämlich: immer auf der Suche nach Ausdrucksweisen, die eigene Lebenserfahrung reflektieren und Experimentelles im Kontext von Tradition verstehen.
Ein Neuerer ganz besonderer Originalität, hier durch zwei aufeinander bezogene Musiken kennenzulernen: „The Unanswered Question“ und „Central Park in the Dark“ (beide 1906 entstanden) sind sozusagen „uramerikanisch“, vom modernen Lebensumfeld des Komponisten inspiriert. Dass es dabei aber nicht um orchestrale Opulenz geht, sondern um Klänge einer Kammerbesetzung, macht Wesentliches dieser eher verhaltenen Musik aus. In feinstem Pianissimo über langsamem und gedämpftem Streichergrund stellt eine Solotrompete (Martin Angerer), kontrastiert durch ein dissonantes Flöten-Quartett, von der Empore aus die „Frage“ (nach dem Sinn des Seins). Ein schwebender intimer Klangzustand hält diese nachdenkliche ernste Stimmung. Die nochmalige, letzte Frage der Trompete findet keine Antwort.
Geheimnisvoll ist auch „Central Park in the Dark“, das Erlebnis eines Einsamen im bekannten New Yorker Naturreservat. Die kontemplative Klangcollage mit sanftem Streicher-Ostinato, kontrastiert durch amerikanische Alltagsgeräusche. Nachdenklich versunken. Vom Orchester wurde beides sensibel und transparent gespielt, genau auf Gielens Dirigat abgestimmt.
Das gilt ebenso für Bernd Alois Zimmermanns (1918-1970) vom Jazz inspiriertes Trompetenkonzert von 1954. Auf der Grundlage des Negro-Spiritual „Nobody knows de trouble Isee“ entfaltet sich temperamentvoll virtuoses Musizieren von 14 Jazzsolisten nebst reicher klassischer Besetzung und raffiniert agierender Solotrompete (vorzüglich: der Schwede Hakan Hardenberger). Das Spiritual wird vielseitig umspielt und variiert in Facetten durchdrungen, ehe die Solotrompete es am Schluss noch einmal leise intoniert. Glänzendes Orchesterspiel auch hier.
Die bestechende Brillanz der Staatskapelle verzauberte dann bei Beethovens „Pastorale“, der 6. Sinfonie. Schon dass Klassik bewusst nach der Moderne platziert war, verlangte besonderes Zuhören. Doch welche Spielkultur, welch Klangfest, welch lustvolle Eleganz war da zu erleben. Und welch ein Zusammenwirken von Dirigent und Musikern: Frische und deutliche Artikulation bis ins Feinste, beseelte Schönheit, Vitalität und Dramatik bis zum beglückenden Finale. Gielens Beethoven: freundlich, klar, ohne Pathos – ganz modern.
Schlagwörter: Berliner Staatskapelle, Bernd Alois Zimmermann, Charles Ives, Liesel Markowski, Ludwig van Beethoven, Michael Gielen