von Albrecht Goeschel und Markus Steinmetz
Gesundheitspolitik und Kassenverbände benutzen bevorzugt den demographischen Wandel als Begründung für Leistungskürzungen und Versorgungsverschlechterungen. Bei der Krankenhausversorgung der Kinderbevölkerung ist dies besonders augenfällig. Die für die stationäre Versorgung relativ zur Zahl der Kinder und Jugendlichen zur Verfügung stehenden Krankenhausbetten wurden innerhalb eines einzigen Jahrzehnts um 60 Prozent abgebaut. (Zum Vergleich: Im Hinblick auf die Erwachsenen erfolgte im selben Zeitraum nur eine Reduzierung um 23 Prozent.) Das ging nach der simplen Formel: Weniger Kinderbevölkerung sei gleich weniger Kinderkrankenhausbedarf. Den Rest erledigte dann noch die systematische Unterfinanzierung der stationären Pädiatrie durch die von Politik und Kassen erzwungene Krankenhausfinanzierung durch vorgegebene Niedrigpreise.
Eine Gesundheitspolitik und Kassenkonzerne, die dem Spardiktat beziehungsweise der Gewinnmaximierung folgen, lassen sich dabei in keiner Weise von den Dauerhinweisen der Epidemiologen und Pädiater beeindrucken, dass es die gleichen gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Zusammenhänge sind, die einerseits zwar einen Rückgang der Kinderzahlen, andererseits aber auch eine Zunahme von Kindererkrankungen bewirken: Der soziale und ökonomische Druck des wachstums- und exportversessenen Wirtschafts- und Gesellschaftssystems in Deutschland hat, so die zutreffende Beschreibung der Familienforschung, eine „Rush-Hours“-Lebensmitte hervorgebracht. Kinder sind hier zusätzlicher Stress und zusätzliches Risiko, weshalb nicht selten auf Kinder ganz verzichtet wird. Die Kinder ihrerseits geraten unter den sozialen und mentalen Druck der die Konkurrenz unter ihnen steigernden „Bildungs- und Wissensgesellschaft“ und immer häufiger auch in die soziale und ökonomische Ausgrenzung einkommensarmer Eltern oder Alleinerziehender. Die Jugendforschung hat die wegen der genannten Ursachen massiven Gesundheitsbeeinträchtigungen bei wachsenden Teilen der Kinder- und Jugendbevölkerung wieder und wieder beschrieben. Die politische Formel müsste daher lauten: Weniger Kinderbevölkerung – aber mehr und anderer Kinderbehandlungsbedarf, auch stationär.
Dieser Mehrbedarf akkumuliert sich sozial und regional: Zum einen bleibt der Kinderanteil an der Bevölkerung in den Großstädten und ihrem Umland relativ stabil. In den Großstädten nimmt zugleich die Anzahl der Kinder aus prekären Milieus und solchen mit Migrationshintergrund zu. Im Umland dominieren Kinder aus etablierten Normalfamilien. Und dann gibt es noch die ländlichen Regionen mit ihrer Abwanderung der Jüngeren und stark rückläufigen Kinderzahlen. Diese Gebiete waren schon quasi „traditionell“ mit Kinderarzt-Praxen und Kinderkrankenhaus-Betten unterversorgt. Ihre Lage wird durch die schon angesprochene Unterfinanzierung der stationären Pädiatrie und die dadurch ausgelösten Schließungen von Kinderabteilungen in Krankenhäusern bald dramatisch.
Warum diese Entwicklung, die nichts weniger bedeutet als die Erzeugung krankheitsanfälliger Erwachsener als Folge ungenügend gesundheitsversorgter Kinder, nicht gestoppt wird, ist schnell erklärt: Die Kinderbevölkerung insgesamt und insbesondere im Gesundheits- und Krankenhausbereich ist eine Minorität. Gesundheitswirtschaftlich ist sie eine Marginalie. Der Gesundheitsumsatz der Erwachsenen insgesamt beläuft sich auf mittlerweile geschätzte 300 Milliarden Euro per anno – derjenige der Kinderbevölkerung lediglich auf geschätzte 20 Milliarden. Besonders uninteressant sind Armutskinder: Während Privathaushalte zusätzlich zu den Gesetzlichen und Privaten Kassen etwa 100 Milliarden Euro umsetzen, bringen es die Kinder aus Armutshaushalten allenfalls auf etwa 0,5 Milliarden.
Diese sozialen und regionalen Problemhäufungen zeigen sich auch unmittelbar in der Krankenhausbehandlung der Kinderbevölkerung. Kinder, die wegen solcher Krankheiten im Krankenhaus behandelt werden, die mit schwierigen Lebenslagen assoziiert sind, werden deutlich häufiger in Bundesländern behandelt, in denen auch Einkommensarme häufiger vertreten sind. Es gibt ein deutliches Häufigkeitsgefälle von Kinderbehandlungsbedarf und Einkommensarmut von Osten nach Süden. Sehr viel spricht auch dafür, dass es dieses Gefälle ebenfalls in den Ballungsräumen von der Kernstadt zu den Randzonen und auch in einigen wirtschaftsstarken Ländern wie gerade Bayern von der Peripherie zu den Zentren hingibt.
Das wieder in Mode gekommene politische Gerede über die nun doch auf einmal notwendigen Infrastrukturinvestitionen darf sich nicht nur auf marode Straßen und Brücken beschränken. Die Bedarfslandschaft der stationären (und ambulanten) Gesundheitsversorgung von Kindern unter Einkommensarmut ist von noch größerer Dringlichkeit!
Schlagwörter: Albrecht Goeschel, demografischer Wandel, Gesundheitsarmut, Kinder, Markus Steinmetz