von Holger Politt, Warschau
Kazimierz Dolny zählt zu den schönsten Kleinstädten des Landes, viele meinen, sie sei die schönste. Die Weichsel, am rechten Ufer liegt der Ort, zeigt sich hier von ihrer malerischen Seite. Der Schriftsteller Jarosław Iwaszkiewicz notierte einst, polnischer könne eine Landschaft nicht sein. Ein weites, lichtdurchflutetes Durchbruchstal, in dem der Fluss seine Richtung nach Nordwesten ändert und fortan auf Warschau zufließt. Ringsum beste Bedingungen für Kulturen aller Art – hier reifen Pfirsiche, guter Hopfen gedeiht, selbst Weinbau wird neuerdings versucht und hellgrüner Tabak steht prächtig.
Eine Blütezeit erlebte Kazimierz, als der Handel mit Getreide aus den fernen Kornkammern der Ukraine, der mit Flößen über die Weichsel erfolgte, an deren Mündung die Stadt Danzig reich und berühmt machte. Verbliebene Speicher in Flussnähe und Renaissancebauten am Markt künden von diesen Zeiten. Den anschließenden wirtschaftlichen Niedergang teilte Kazimierz mit vielen polnischen Städten. Schließlich befand es sich ab 1815 für einhundert Jahre im sogenannten Königreich Polen unter russischer Herrschaft. Die Industrialisierung, die Ende des 19. Jahrhunderts große Teile dieses Landes geradezu umpflügte, machte um Kazimierz einen weiten Bogen.
Auch deshalb entdeckte an der Wende zum zwanzigsten Jahrhundert ein anderes Völkchen die vergessene Stadt – Kazimierz spreizte sich zu einer Künstlerkolonie, zog vor allem die Maler an. Den Schustersohn Chaim Goldberg, 1917 in einer armseligen Behausung unweit des Flussufers zur Welt gekommen, zog es früh in diese fremde, in die Künstlerwelt. Er hatte Glück, erfuhr nachsichtige Förderung von geeigneter Seite, kam schließlich mit seinem Talent an die Kunsthochschulen von Warschau und Kraków.
Als der Krieg ausbrach und der Feind das Land schnell besetzte, kehrte Chaim Goldberg noch einmal nach Kazimierz zurück, er wollte die Eltern bewegen, mit ihm zusammen nach Osten zu fliehen. Sein Vater entgegnete, man sei viel zu alt für solcherart Strapazen, im Übrigen kenne er die deutschen Besatzer, die waren bereits einmal hier, im letzten Krieg ab 1915, und die seien immer gut zu den Juden gewesen! Hitler hin, Hitler her, die Deutschen würden ihnen auch diesmal kein Haar krümmen, und schließlich habe das kleine Kazimierz ohnehin nur wenig Bedeutung.
Der Schuster Goldberg kam wie die übrigen wohl 3.000 jüdischen Menschen des Ortes ins Ghetto, das Anfang 1940 um die Synagoge herum auf viel zu engem Raum willkürlich abgegrenzt wurde. Mehr als die Hälfte der Einwohnerschaft von Kazimierz war so eingepfercht, jener Teil, der im Alltag bevorzugt das Jiddische gebrauchte. Im zeitigen Frühjahr 1942 erfolgte der Transport nach Bełżec, einem kleinen, an sich unbedeutenden Ort hinter Zamość. Der Betrieb dort hatte gerade angefangen, die Juden aus Kazimierz zählten zu den ersten Opfern. Wer heute nach Bełżec kommt, stößt genau dort, wo auch die Transporte aus Kazimierz endeten, auf eine halbe Million kleinerer und größerer Vulkansteine, von denen ein jeder an je einen Menschen erinnern soll, der hier in der kurzen Zeitspanne zwischen März und Dezember 1942 durch die deutschen Besatzer ermordet wurde. Nachdem das unfassbare Vernichtungswerk vollbracht war, ließen die Mörder die Leichen wieder ausbuddeln und bis März 1943 auf Schienenrosten unter freiem Himmel verbrennen.
Chaim Goldberg kam 1946 aus der Sowjetunion nach Polen zurück, blieb dort bis 1955, ging dann nach Israel und wanderte schließlich in die Vereinigten Staaten aus, wo er 2004 starb. Seiner Kunst blieb er treu – und seinem Heimatort. Er setzte in ergreifenden, farblich fein abgestuften Bildern dem jüdischen Leben von Kazimierz, das zuvor in besseren wie in schlechteren Zeiten Jahrhunderte ungestört überdauert hatte, bis es plötzlich ausgelöscht wurde, ein überwältigendes künstlerisches Denkmal. Nach der Katastrophe holte er das untergegangene Dasein noch einmal zurück – den Fährmann, den Wasserträger, den Rabbi mit seinem Schüler, den Musikanten, Feiertagsstimmung und Alltag, etwa das Waschweib am Fluss oder die Mutter beim Kartoffelschälen. Oft genug schmuggelte Chaim Goldberg die eigenen, später entstandenen Bilder eulenspiegelgleich in die Szenerie, der Hinweis, dass er wisse, was sogleich mit allen geschehen werde, dass er niemanden retten, nur erinnern könne. Einmal kommen die oft von ihm Gezeichneten auf den Marktplatz von Kazimierz zurück, ein Bild in abgedunkelten, wiewohl aufschreckenden Farben, das gleichermaßen Anklage wie Frage ist: Warum?
Wenn am 1. September auf der Westerplatte in Gdańsk sich Staatspräsident Komorowski und Bundespräsident Gauck zum Zeichen weitgehender Versöhnung der beiden Staatsvölker die Hand geben, was auch eine Bestätigung ist, wie viele schmerzliche Wunden in den zurückliegenden Jahrzehnten vernarbten und verheilten, so betrifft es nicht die Menschen aus Kazimierz, die zunächst ins Ghetto gesperrt wurden und dann nach Bełżec mussten. Deren Kultur ist unrettbar verloren gegangen, ein kostbarer Menschheitsschatz, an den allenfalls noch rudimentär erinnert werden kann. In Kazimierz, diesem wunderbaren Städtchen, würde die Weichsel, so sie könnte, jiddisch weinen.
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