von Thomas Zimmermann
„Er ist sympathisch, intelligent, besonnen, ruhig und anständig.“ Diese kurze Charakterstudie zu Alfred Wolfenstein verzeichnete der Nobelpreisträger Romain Rolland im Mai 1916 in sein Tagebuch. Da hatte Wolfenstein gerade einmal einen kleinen Gedichtband veröffentlicht – und der hatte auch schon wieder zwei Jahre auf dem Buckel.
Aber Wolfenstein traf mit seinen Gedichten, die er 1914 unter dem Titel Die gottlosen Jahre veröffentlichen ließ, ganz offensichtlich den Nerv der Zeit. Nun ja, nicht unbedingt den Nerv vom Sommer 1914, als ganz Europa mit wehenden Fahnen in den Krieg zog. Aber den Nerv vom darauffolgenden Sommer, als der Krieg mit seinem ganzen Grauen in das Bewusstsein der Menschen drang und sich tatsächlich „gottlose Jahre“ abzeichneten.
Wolfenstein etablierte sich endgültig mit seinem zweiten Gedichtband, Die Freundschaft (1917), in den Reihen der Expressionisten. Was eigentlich recht merkwürdig erscheint, denn von Anfang an passte er überhaupt nicht zu diesen jungen Wilden, war weder jung noch wild, im Gegenteil: Wolfenstein, 1883 in Halle geboren, war um einiges älter als etwa Walter Hasenclever, Franz Werfel oder Ernst Toller, die mit ihm den literarischen Ton angaben. Das hielt er aber geheim, auch vor seiner späteren Frau. Weil es ihm peinlich war, in Dessau aus Geldmangel die Schule unterbrochen zu haben, um über eine Lehre zu einem Brotberuf zu kommen. Mit Hilfe von Berliner Verwandten erlangte Wolfenstein dann doch noch das Abitur, studierte und promovierte. Jura natürlich, die beste Möglichkeit für einen jüdischen Aufsteiger, um sich im wilhelminischen Bildungsbürgertum zu etablieren. In diese „Sphären“ aber passte keine Lehrlingsvergangenheit, und so log sich Wolfenstein mal drei, mal fünf Jahre jünger.
Besonders wild war Wolfenstein auch nicht gerade. Statt mit Gottfried Benn hielt er es lieber mit Rainer Maria Rilke, man wohnte und las zusammen in München. Eher zufällig gerieten beide in den Fokus der dortigen Räterepublik. Während die Expressionisten, allen voran Toller, da noch einmal gewohnt pathetisch eine nationale Brüderschaft ausriefen, beharrte Wolfenstein in seinen Gedichten und Essays auf einer Menschenfreundschaft, die ohne Landesgrenzen auskommt.
Während sich das Pathos der jungen Wilden bald über Nachkriegswirren und Inflation verflüchtigte, blieb Wolfenstein eine feste Größe im Literaturzirkus der Weimarer Republik: Sich vom Expressionismus verabschiedend, schrieb er sich 1919 in Kurt Pinthus‘ Menschheitsdämmerung ein, gab im selben Jahr mit Die Erhebung zwei Sammelbände der wichtigsten jungen Autoren heraus. Anschließend wandte er sich der Prosa zu, daneben verfasste er zeitkritische Theaterstücke wie Die Nacht vor dem Beil (1929), ein Drama gegen die Todesstrafe.
Als er sich für seinen von der reaktionären Zensur gegängelten Freund Johannes R. Becher einsetzte und im Prozess um den späteren Friedensnobelpreisträger Carl von Ossietzky Farbe bekannte, indem er den Verurteilten mit Lion Feuchtwanger und einigen anderen demonstrativ zum Gefängnis begleitete, wurden die rechten Parteien auf Wolfenstein aufmerksam. Sein in ihren Augen wohl größtes Vergehen: Er übersetzte fleißig die Literatur vom Erzfeind Frankreich, um damit dem europäischen Geist zu dienen. Victor Hugo, Arthur Rimbaud und Paul Verlaine werden noch heute in Wolfensteins Übersetzung gedruckt; seine größte Leistung auf diesem Gebiet dürfte indes der Band Hier schreibt Paris (1930) sein, der die zeitaktuellen Schriftsteller der Grande Nation vorstellt.
Seine eigentlichen Meisterleistungen aber vollbrachte Wolfenstein ausgerechnet unter den unwirtlichen Umständen im Prager Exil, das er 1933 angetreten hatte. Mit journalistischem Kleinkram und noch unbedeutenderen Theaterstücken für Puppenbühnen hielt er sich finanziell einigermaßen über Wasser. Daneben aber entstand in harter Sisyphusarbeit mit Stimmen der Völker (1936) eine Sammlung von Gedichten aus allen Teilen der Welt in (zum Teil erstmals) deutscher Übersetzung, die ein deutliches Zeichen setzen sollten gegen den Nationalismus des NS-Regimes. Nobelpreisträger Hermann Hesse lobte den Herausgeber Wolfenstein als einen „Dichter von Rang, zugleich einen feinfühligen Kenner des Schönen, einen Humanist“.
Der zweite literarische Wurf folgte noch im selben Jahr: Die gefährlichen Engel (1936), ein Erzählband, zeigen Wolfenstein auf der Höhe seiner literarischen Leistung – an die er später nicht mehr anknüpfen konnte.
Im Jahr 1938 nach Frankreich geflohen, lebte er ab 1940 im unbesetzten Süden im Untergrund, immer in Furcht vor den Nazischergen. Herzkrank, erschöpft und depressiv nahm er sich schließlich im Januar 1945 das Leben.
Was von dem vielseitigen Werk Wolfensteins, der so ziemlich jeden Literaten der Zwischenkriegszeit kannte, geblieben ist? Ein expressionistisches Gedicht nur, Städter (1914), das durch die Gymnasien geistert und in dem die Einsamkeit der Menschen in der Großstadt besungen wird, ein Zeitdokument der klassischen Moderne – und eine nach ihm benannte Straße in seiner Heimatstadt Halle, in einem der hässlichen Viertel im Norden der Stadt.
Schlagwörter: Alfred Wolfenstein, Thomas Zimmermann