von Wolfgang Brauer
Wenn große Jubiläen Autoren die Feder führen – und die Verleger dem bedingten Reflex erliegen, ihre Programme dementsprechend zu stricken – ist Vorsicht angesagt. Ich bin mir sicher, sollte es in 319 Jahren noch Bücher geben, es wird noch Bücher geben, wird ein großes Alexander-Jahr mit einer unendlichen Vielzahl von Publikationen ins Haus stehen. Warum? An Alter Geschichte Interessierte wissen: „3-3-3 bei Issos Keilerei.“ 2.000 Jahre Alexanderschlacht, wenn das nichts ist! Wir sollten uns aber nicht im Gram über unsere Ungnade der zu frühen Geburt verzehren: Sollte bis dahin das Alexandergrab nicht gefunden worden sein, werden auch unsere Nachkommen über den makedonischen Schlagetoterich nicht mehr wissen als wir.
Mit den meterlangen Editionen deutscher Verlage zum Ersten Weltkrieg verhält es sich ähnlich. Nicht viel Neues erfährt man nicht. Der alte Wein wird zumeist nur in neue Schläuche abgefüllt. Aber auch das muss nicht unbedingt von Schaden sein. Manches ist es Wert, aus dem Dämmerschatten der Beinahe-Vergessenheit wieder an das Licht hervorgeholt zu werden. Geradezu ein Musterbeispiel dafür lieferte dieser Tage der Bielefelder Aisthesis-Verlag.
Robert Vehrkamp, am selben Orte mit einer Professur für Europäische Wirtschaftspolitik betraut, legte bei Aisthesis Theodor Wolffs „Zeugenaussage zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs“ vor. Das macht neugierig, Theodor Wolff ist nicht irgendwer gewesen. Von 1906 bis 1933 war er Chefredakteur des seinerzeit „Meinung machenden“, gut informierten und zumeist solide berichtenden Berliner Tageblattes. Wolff war Feind der „Alldeutschen“ und publizistischer Verteidiger der ersten deutschen Republik. Wilhelm II. und sein Klüngel verachteten das Blatt und seinen Chef, die Nazis wollten ihm – nicht nur weil er Jude war – an den Kragen. Und sie schafften das auch. Theodor Wolff wird 1943 von der Gestapo aus Frankreich nach Berlin verschleppt und stirbt dort am 23. September im Jüdischen Krankenhaus.
Wolff veröffentlichte zwei Bücher über die Vorgeschichte des Ersten Weltkrieges, die auch aus seiner Sicht eine Geschichte der Außenpolitik des Kaiserreiches ist: 1924 den Band „Das Vorspiel“, als zeitlichen Rahmen wählte er den Zenit der Machtentfaltung des Kanzlers Bismarck, den Berliner Kongress 1878, und das Ende der Kanzlerschaft des Fürsten Bernhard von Bülow 1909. Der zweite Band seiner „historischen Memoiren“, wie Vehrkamp die Bücher nennt, erschien erst im Exil bei Oprecht & Helbing 1934 in Zürich unter dem Titel „Der Krieg des Pontius Pilatus“. Der Autor behandelt hier die Jahre von 1909 – das ist der Zeitraum vom Beginn der Kanzlerschaft Theobald von Bethmann Hollwegs, an dem Wolff im Unterschied zu dessen Vorgänger von Bülow kaum ein gutes Haar lässt – bis zum Kriegsausbruch.
Aus ebendiesem Buch „rekonstruiert“ Robert Vehrkamp ein Tagebuch Theodor Wolffs der Julikrise 1914. Im tatsächlich von Wolff geführten privaten Tagebuch fehlen entscheidende Tage der Wochen vor dem Kriegsbeginn. Man kann das Vorgehen des Herausgebers für anfechtbar halten. Wer sich des Vorwortes des Büchleins enthält, wird dessen Verfahren zunächst nicht bemerken, der Text ist auf eine atemberaubende Weise am Tagesgeschehen „dran“. Allenfalls werden kundige Leser über behutsam verpackte Wertungen und Kommentare „post festum“ stolpern, die mitnichten im Juli 1914 von Wolff aufgeschrieben sein können. Aber das schmälert nicht die Unmittelbarkeit des Eindrucks. Zumal sich Wolff im Frühjahr 1914, Vehrkamp erzählt die Geschichte im Nachwort, wohl doch noch vom Auswärtigen Amt zum Zwecke der Störung der russisch-britischen Annäherung hatte einkaufen lassen. Sicherlich nicht gegen bare Münze – aber doch für gewisse Erleichterungen der Informationsbeschaffung, dem vergifteten Manna jeglichen guten Journalismusses –, das Berliner Tageblatt war Ende 1911 von Bethmann-Hollweg sozusagen zur „persona non grata“ aller diplomatischen Vertretungen des Reiches deklariert worden. Theodor Wolff erhielt nun Zugang zu den Schaltstellen des Auswärtigen Amtes, so zu Wilhelm von Stumm, dem Dirigenten der Politischen Abteilung und dem erzkonservativen Staatssekretär, also dem „Außenminister“, Gottlieb von Jagow. Seine Mitteilungen dürfen Authentizitätsanspruch erheben.
Was auch Theodor Wolff offenbar bereits 1914 erkannte: Die Reichsleitung spielte bewusst mit der Möglichkeit eines „allgemeinen Krieges“ (diesen Begriff legt er von Jagow in den Mund); sie erwies sich als vollständig uninformiert über den tatsächlichen Zustand des russischen Heeres – und meinte offenbar, England noch irgendwie „heraushalten“ zu können. Im schlimmsten Falle spekulierte man auf revolutionäre Erhebungen in Finnland und Polen (natürlich nur in Russisch-Polen…). Alles Denkmuster übrigens, die sich tragischerweise als über Jahrzehnte haltbare Konstanten deutschen außenpolitischen Denkens erweisen sollten. Darüber, wie verhängnisvoll die Unterstützung der habsburgischen Politik gegenüber Serbien sein musste, gibt sich Theodor Wolff keinen Illusionen hin. Was er zu diesem Zeitpunkt noch nicht wissen konnte, war das Ausmaß des Druckes, den Berlin in dieser Angelegenheit auf Wien ausübte. Aber seine Beschreibung der Winkelzüge und Finten der deutschen Außenpolitik lässt keinen Zweifel daran, dass der Krieg von den herrschenden Kreisen des Reiches erwünscht war, und diese nichts aber auch nichts unternahmen, um den Gefahrenherd auszulöschen. Im Gegenteil. Das macht den Wert dieser Textmontage Robert Vehrkamps aus.
Ärgerlich ist es jedoch, wenn der Herausgeber versucht, den Schlafwandler-Theoretiker Christopher Clark in die Tradition Theodor Wolffs zu stellen. Der behauptete „multiperspektivische Ansatz, der die Perspektiven aller am Kriegsausbruch beteiligten Länder berücksichtigt und in ihrem tragischen Zusammenwirken zu verstehen sucht“, legitimiert mitnichten eine solche Traditionslinie. Auch wenn er noch im Exil unter dieser Erkenntnis fürchterlich zu leiden scheint: An der Hauptschuld der Mittelmächte am Kriegsausbruch lässt Theodor Wolff keinen Zweifel. Robert Vehrkamp hätte sich sein Vorwort in diesem ansonsten lesenswerten Büchlein zugunsten einer editorischen Nachbemerkung verkneifen sollen. So riecht man die Absicht – und ist verstimmt.
Theodor Wolff: Juli 1914. Meine Zeugenaussage zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs, Aisthesis Verlag, Bielefeld 2014, 165 Seiten, 17,80 Euro.
Schlagwörter: Julikrise, Robert Vehrkamp, Theodor Wolff, Wolfgang Brauer