17. Jahrgang | Sonderausgabe | 11. August 2014

Dem Vergessen entrissen – drei Anti-Kriegsbücher

von Wolfgang Brauer

Wer meint, neben den Romanen von Erich Maria Remarque („Im Westen nichts Neues“, 1929), Ludwig Renn („Krieg“, 1929), Arnold Zweig („Der Streit um den Sergeanten Grischa“, 1927 und „Erziehung vor Verdun“, 1935) und – von einer ganz anderen Autorenposition – Ernst Jüngers „In Stahlgewittern“ (1920 ff.) wäre nichts mehr auf gleicher literarischer Augenhöhe zu entdecken, wird nach der Lektüre von Peter Schmitz’ Kriegsroman „Golgatha“ eines Besseren belehrt sein. Schmitz ist bislang in Deutschland (fast) völlig unbekannt.
Ein paar Worte über den Autor: Peter Schmitz wurde am 27. Dezember 1887 in Eupen geboren, also im deutsch-belgischen Grenzland. Er begann in Aachen ein Volksschullehrerstudium, brach das zugunsten einer Bildhauerlehre ab und war vor dem Ersten Weltkrieg als freischaffender Künstler und Kunsthändler in Eupen tätig. Wie viele andere seiner Generation zog er im Sommer 1914 als Freiwilliger an die Front. Mit dem 29. Reserve-Infanterie-Regiment machte er von den Gemetzeln in der Champagne, der Marne-Schlacht und den Materialschlachten um Verdun und an der Somme die fürchterlichsten Auseinandersetzungen bis zum Jahre 1917 an der Westfront mit. Er war wohl ein guter Soldat. 1916 zum Unteroffizier befördert, wurde er „wegen Menschlichkeit“, wie Philippe Beck im Einleitungsaufsatz der Neuausgabe von „Golgatha“ zitiert, wieder degradiert – um kurze Zeit später aufgrund gezeigter Tapferkeit mit dem EK II und der Wiedereinsetzung in seinen militärischen Rang ausgezeichnet zu werden. Die durchlebten Metzeleien machten Peter Schmitz zum radikalen Kriegsgegner. Nach Kriegsende wurde er – wie alle Eupen-Malmedyer – Belgier, arbeitete wieder als Kunsthändler, widmete sich der Pflege der heimatlichen Kultur und schrieb in den regionalen Zeitungen gegen den deutschen Nationalismus an. Was erst in den letzten Jahren, unter anderem durch die Forschungen Philippe Becks, bekannt wurde: Schmitz war im Grenzland offenbar eine Schlüsselfigur der alliierten Nachrichtendienste gegen die Wiederaufrüstung Nazi-Deutschlands. Das machte ihn auch für die deutschen Geheimdienste interessant. Er starb am 4. Februar 1938 offenbar unter mysteriösen Umständen in Eupen. Selbst den Toten verfolgte noch die Gestapo. Sein Grab wurde verwüstet, die Familie schikaniert – und sein Roman „Golgatha“ bis auf ganz wenige Exemplare vernichtet.
Das Buch war den Nazis aus guten Gründen verhasst. „Golgatha“ ist ein literarisch überzeugender pazifistischer Roman – und ebenso wie Renns oder auch Jüngers Buch aus dem jahrelangen unmittelbarem Fronterleben gespeist. Niemand kann Peter Schmitz vorwerfen, er berichte gleichsam aus „dritter Hand“. Zu beiden gibt es aber einen wesentlichen Unterschied: Schmitz schreibt nicht aus der als Autorenposition eingenommenen Sicht des einfachen Soldaten, er schreibt nicht aus den Erfahrungen des Offiziers heraus (das schimmert selbst bei Ludwig Renn gelegentlich durch). Und anders als Jünger – die Landsknechtsnatur des Autoren prägt die „Stahlgewitter“ von der ersten bis zur letzten Seite –, vermag Schmitz in der Gestalt seines Protagonisten Paul Bürger auch im „grandiosen“, nächtens rot-gelb auflodernden Panorama der Somme-Schlacht nichts Grandioses entdecken. Seine Kameraden und er wissen, dass sie da hinein müssen – und dass sie dieses Inferno kaum lebend überstehen werden: „Wir haben mit dem Leben abgeschlossen. […] Der Krieg hat uns seelisch zermürbt.“ Solche Sätze sucht man bei Ernst Jünger und seinen literarischen Spießgesellen vergebens.
Auch Peter Schmitz schildert Szenen erbitterter Kämpfe. Er findet zu einer unerhört eindringlichen Sprache, mit der er dem Helden-Geschwätz der Kriegsverherrlicher die Maske vom blutigen Gesicht zieht. Und er präsentiert die Rechnung: „Michel, der Sozialist, hat neulich im Waldlager so etwas wie eine Versammlung ‚alter Knochen’ veranstaltet und festgestellt, dass von den tausend Söhnen der Heimat, die das Bataillon Eupen-Malmedy bildeten, noch etwa dreißig übrig blieben.“ Das war nach der großen Somme-Schlacht des Jahres 1916. Wenige Wochen später kann Paul Bürger die Zahl der überlebenden Kameraden, die 1914 mit ihm begeistert in das Feld zogen, an den Fingern einer Hand abzählen.
Die Darstellungen des Kriegsalltages bewegen sich oft an der Grenze des Ertragbaren. Aber Schmitz bleibt nicht dabei stehen, die Helden seines Buches hinterfragen immer wieder den Sinn des Ganzen. Sie finden ihn nicht in den offiziellen Erklärungen. Erst ganz am Schluss des Buches finden der Unteroffizier Paul Bürger, der junge Soldat Elbing und Leutnant Erung, der den Untergang seiner Kompanie nicht verhindern konnte, zu einem solchen: „Wir aber, die wir das Grauen des Krieges kennen, müssen zu Streitern des Friedens werden! […] Und auf dem Weg zu diesem Ziel werden uns die Toten dieses Krieges begleiten! Das Geisterheer der Kriegstoten wird mit den Streitern des Friedens marschieren, denn sie alle, sie alle starben nicht für den Krieg, sondern für den Frieden, sie alle gingen den schweren Weg zu ihrem Golgatha, damit dieser Krieg der letzte sei und Frieden werde auf Erden!“
„Golgatha“ wurde in einer ersten Fassung 1931 als Fortsetzungsserie in der ostbelgischen Ausgabe von L’Invalide, der Zeitschrift der belgischen Kriegsveteranen, veröffentlicht. Die Buchfassung erschien erst 1937 im Eupener Paul-Kaiser-Verlag. Der frühe Tod des Autoren, die nicht mehr statt gefundene französische Übersetzung – und vor allem der Beginn des Zweiten Weltkrieges verhinderten, dass der Roman ein breiteres Publikum fand. Die jetzt vom Donat-Verlag vorgenommene Neuausgabe gehört zu den verlegerischen Höhepunkten des Jahres 2014. Die Geschichte der deutschsprachigen Antikriegsliteratur muss um einen wichtigen Beitrag ergänzt werden.

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Zu den vielen zählebigen Legenden um den Ersten Weltkrieg gehört auch jene, die uns mit abgrundtiefer Naivität glauben lassen will, die Militärs hätten vor 1914 die Möglichkeiten der neuen Waffentechnik falsch eingeschätzt – mit der Folge, dass der ursprünglich geplante „klassische“ Bewegungskrieg in den Blutsümpfen Flanderns und der Champagne stecken bleiben musste. 1912 legte der hamburgische Volksschullehrer (!) Wilhelm Lamszus (1881-1965) einen Roman unter dem Titel „Das Menschenschlachthaus – Bilder vom kommenden Krieg“ vor, der – wie der Herausgeber der Neuausgabe Andres Pehnke schreibt – zum in der deutschen Literaturgeschichte „einzigen Versuch“ wurde, „einen zukünftigen Krieg auf der Basis der technologischen Veränderungen seit dem Deutsch-Französischen Krieg 1870/71 zu imaginieren“. Mit der deutschen Literaturgeschichte übertreibt Pehnke ein wenig. Johannes R. Becher veröffentlichte 1926 den Roman „Levisite oder Der einzig gerechte Krieg“, in dem er den kommenden Krieg als eine mit Flugzeugen und Gaseinsatz herbeigeführte Apokalypse beschreibt. Auch „Levisite“ wäre es wert, wieder aus der Versenkung hervorgeholt zu werden. Die Realität holte die Dichter schnell ein: Am 20. Mai 1928 explodierte auf dem Betriebsgelände der Hamburger Firma Stoltzenberg ein Phosgen-Tank mit fürchterlichen Folgen. Für Wilhelm Lamszus war dies Anlass, für die 72. Auflage des „Menschenschlachthauses“ ein neues Vorwort zu verfassen.
Wilhelm Lamszus’ Werk leistete Pionierarbeit: „Das Kriegsmaschinenwesen hatte sich zu genialer, zu künstlerischer Höhe entwickelt. Man ließ ein Maschinengewehr schnurren, und schon spritzte es Kugeln, dichter, als der Regen fällt! Als hätte der Tod die Sense auf das Eisen geworfen und wäre Maschinist geworden!“ So beschreibt Lamszus 50 Jahre nach Erscheinen seines Romanes in der Neuen Deutschen Literatur die Eindrücke, die er nach einer Reserveübung (!) über die Wirkungsmöglichkeiten der neuen Technik erhalten hatte. Das ähnelt den Reflexionen, die sein namenloser Protagonist im zweiten Kapitel des Buches über den Krieg, den „Maschinentod“, der ihn erwartet, anstellt. Im Roman heißt es dann weiter: „Wir laufen ja nur gegen Maschinen an. Und die Maschine triumphiert in unser Fleisch hinein. Und die Maschine trinkt das Blut aus unseren Adern und säuft es eimerweise aus. Schon liegen hinter uns die Angeschossenen in Reihen hingemäht und wälzen sich in ihren Wunden. Und doch stürmt es von hinten nach, zu hunderten, junges, gesundes Menschenfleisch, das die Maschine schlachten wird… […] So massenhaft, so kaltblütig, so sachverständig rottet man nur das Ungeziefer aus. In diesem Kriege sind wir nichts als Ungeziefer.“
Vor dem Krieg wurde das Buch das, was man heute einen Bestseller nennt. Der Autor gehörte zu den Vielen, die seinerzeit meinten, mit Aufklärung ließe sich der kommende Krieg noch verhindern. Ein tragischer Irrtum. 1914 wollte Wilhelm Lamszus einen zweiten Teil seiner Visionen veröffentlichen – dieser Band endet in einer „unheimlich blutfarbene(n) Revolutionsphantasmagorie“, wie Carl von Ossietzky schreibt. Die Wirklichkeit war schneller. Der Roman konnte erst 1919 in Hamburg unter dem Titel „Das Irrenhaus“ erscheinen. Ossietzky schrieb das Vorwort. Auch er rätselt darüber, weshalb „Das Menschenschlachthaus“ – obwohl vielgelesen – doch nicht die Wirkung erzielte, die der Autor erhoffte: „Man delektierte sich daran, wie an den abstrusen Utopien eines Wells. Doch fühlte man nicht das seherische in dem schmalen Büchlein. Irgendwie ahnte man die ungeheure Gefahr, aber das Geschlecht war zu feige, um diesem Bild Wirklichkeit zuzusprechen.“
Andreas Pehnke gab jetzt beide Teile des Romans in einem Band heraus. Noch einmal Carl von Ossietzky: „Noch sind genügend Hände bereit, neue Brandfackeln zu schleudern. Nichts, was zum Krieg geführt hat, ist durch den Krieg wirklich abgetan.“ Das gilt auch 2014. Nur das „Kriegsmaschinenwesen“ ist zu einer „künstlerischen Höhe“ geführt worden, die auch Wilhelm Lamszus gegen Ende seines Lebens nicht ahnen konnte.

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Wilhelm Lehmann wird den meisten Literaturkennern als einer der großen deutschen Lyriker des 20. Jahrhunderts geläufig sein. Von Bekanntsein wage ich nicht zu sprechen. Weitestgehend unbekannt ist seine Prosa. 1927 legte Lehmann dem S. Fischer Verlag in Berlin ein umfängliches Manuskript „Der Überläufer“ vor. Sein Freund Oskar Loerke war dort Cheflektor. Loerke setzte sich für den Roman ein. Verlagschef Gottfried Bermann wollte ihn nur gekürzt veröffentlichen: Das „ungeheuere Kriegserlebnis“ interessierte ihn. Bermann hatte einen untrügerischen Verlegerinstinkt. Wilhelm Lehmanns Namen und den Titel seines Romanes „Der Überläufer“ würden wir heute in einem Atemzuge mit den anderen großen Antikriegsautoren der 1920er Jahre nennen. Lehmanns Absage verhinderte das. Er wollte das Gesamtmanuskript veröffentlicht sehen. Bis 1930 ging er bei diversen Verlagen Klinken putzen. Überall nur Ablehnungen – auch aus durchaus politischen Gründen heraus. Wilhelm Lehmanns Held Hanswilli Nuch ist nicht nur das komplette Gegenmodell des seinerzeitigen Soldatenbildes – von links bis rechts! –, das militärische Gemache ist ihm zutiefst wesensfremd. Dem Schlachten entzieht er sich schnöde durch Flucht zum Feind. Er desertiert. Und Desertion war und ist für militärisch Denkende das schlichtweg Undenkbare. Deserteure stellen die Berechtigung militärischen Handelns grundsätzlich, nicht nur für eine Seite, in Frage. Sie sind allen Kriegsfreunden eine genuine Gefahr. Als der Roman endlich 1962 in der Bundesrepublik noch zu Lebzeiten Wilhelm Lehmanns erschien, wurde er gerade in seinen entscheidenden Teilen „Krieg und „Gefangenschaft“ stark gekürzt. Komplett veröffentlicht ist er in der achtbändigen Ausgabe der „Gesammelten Werke“ bei Klett-Cotta. Die ist verdienstvoll, aber wie alle Ausgaben solcher Art nicht unbedingt tauglich für einen breiteren Publikumszugang. Wolfgang Menzel, Mitherausgeber der Klett-Cotta-Ausgabe und Stellvertretender Vorsitzender der Wilhelm-Lehmann-Gesellschaft, gab jetzt die Fassung des Buches heraus, die seinerzeit Gottfried Bermann vorschwebte: Er fügte die Abschnitte „Krieg“ und „Gefangenschaft“ in der Fassung von 1927 zu einem eigenen Büchlein zusammen, versah es mit einem kundigen Nachwort – das Geleitwort schrieb kein Geringerer als Günter Kunert. Herausgekommen ist ein lesens- und verbreitenswertes Büchlein, das leider wieder an Aktualität zu gewinnen scheint. Krieg ist nicht nur wieder denkbar geworden, er wird auch mit deutscher Beteiligung gemacht. Die Friedensbewegung ist schwach und hilflos wie seit Jahrzehnten nicht. Auch die linke Bewegung erweist sich derzeit in Sachen Kampf gegen den Krieg als „miles gloriosus“. Der individuelle Friedensschluss in Form des Wegschmeißens des Gewehres sei also wieder in höchsten Tönen gelobt! Allen, die den Mut dazu aufbringen, gebührt jede Form von Hilfe, die Menschen möglich ist.
Wolfgang Menzel bezeichnet das Buch in der Einleitung als „radikalsten Antikriegsroman der deutschen Literatur“. Da drohen die Rosse der Maßlosigkeit mit ihm durchzugehen. Bei einer Neuauflage sollte der Verlag diesen Halbsatz streichen, Übertreibung schadet nur. Ich wünsche dem „Überläufer“ weite Verbreitung!

Peter Schmitz: Golgatha. Ein Kriegsroman, 336 Seiten, 16,80 Euro; Wilhelm Lamszus: Das Menschenschlachthaus. Visionen vom Krieg. Erster und Zweiter Teil, 160 Seiten, 14,80; Wilhelm Lehmann: Der Überläufer. Roman, 144 Seiten, 12,80 Euro; alle drei Titel im Donat Verlag, Bremen 2014.