17. Jahrgang | Sonderausgabe | 28. Juli 2014

Das Kernkraftwerk Stendal ließ kein Licht leuchten

von Kai Agthe

Wladimir Putin, von Beruf lupenreiner Demokrat mit Dienstsitz Kreml, hat jüngst ein Dekret unterzeichnet, in dem die Wiedereinführung des Ordens „Held der Arbeit“ verfügt wird. Es ist nicht bekannt, ob es eine sentimentale Anwandlung war oder ein Ansporn im Wettbewerb, der kein sozialistischer mehr ist, sein soll. Es ist hier nicht der Ort, über Sinn oder Unsinn dieser Auszeichnung zu meditieren. An die Nachricht wird aber erinnert, wer in dem Bildband „Die vergessenen Orte der Arbeit“ blättert. Der Fotograf Maix Meyer stellt darin zehn Stätten vor, in denen, mit einer Ausnahme, Hochbetrieb herrschte, als es den Orden „Held der Arbeit“ samt DDR noch gab. Heute sind diese Industriestandorte Ruinen, die, vom langen Leerstand gezeichnet, bald endgültig zerbröselt sein werden. Ähnlich wie die Bände der ebenfalls im Mitteldeutschen Verlag erscheinenden Reihe „Lost Places“ dokumentiert dieses Buch einen Ist-Zustand, der morgen schon, mit oder ohne Abrissbagger, Geschichte sein kann.
Maix Meyer hat, wie Herausgeber Olaf Jacobs im Vorwort erläutert, die mitteldeutschen Geisterstätten allein, ohne die Unterstützung von Assistenten oder aufwändiger Technik aufgesucht. Er wollte, das Sprachspiel sei hier gestattet, den Geist des Ortes wohl nicht verschrecken. Also reiste er durch Sachsen und Sachen-Anhalt und dokumentierte zehn Industrieruinen. Heraus kam ein Farbbildband im Querformat, der zeigt, wie Kultur in den Naturzustand zurückfällt.
Ebenso kurze wie instruktive Begleittexte zu jedem Ort hat Emilia Thalheim beigesteuert. Die bieten Erhellendes zur einstigen Bedeutung der abgewickelten Unternehmen. So erfahren wir etwa über VEB Polygraph Reprotechnik Leipzig, dass auf hier hergestellten Maschinen in den 1980er Jahren die Hälfte der amerikanischen Einkaufstüten gedruckt wurde. Und in der Zeitzer Schokoladenfabrik, die einst VEB Zetti hieß und heute als GmbH Knusperflocken produziert, wurden im Zweiten Weltkrieg keine Süßigkeiten, sondern Gasmasken hergestellt.
Ob in den immobilen Hinterlassenschaften eines Leipziger Förderanlagen- und eines Zeitzer Kinderwagenbauers, eines Riesaer Streichholzherstellers oder der Sternburg-Brauerei – die Bilder gleichen sich hier wie dort: Maix Mayers Farbfotos halten einen Niedergang fest, der einerseits durch den Zahn der Zeit und andererseits durch juvenilen Vandalismus verursacht wurde: Die historische Tünche blättert überall großflächig von den Wänden. Die Fenster sind fast durchweg zerschlagen. Hier blüht ein Baum, dort mehr oder minder gelungene Graffiti: Im einstigen Reichsbahnausbesserungswerk in Magdeburg-Salbke ist ein violettes Einhorn mit fliegender Mähne und buschigem Schweif gesprayt. Im Kulturhaus daselbst hängen weiße Quadrate der Vertäfelung wie Atemmasken eines notgelandeten Flugzeuges von der Decke.
Neben all den Orten, die zum Teil fünf Gesellschaftssysteme produzierend erlebten, aber aus Gründen der Effizienz nach 1989 aufgegeben wurden, steht ein vergessener Ort, der nicht eine Minute in Betrieb gewesen ist: Das Kernkraftwerk Stendal hat niemals ein Licht leuchten lassen. Dort wurden schon zu DDR-Zeiten Millionen Mark in den Altmarksand gesetzt. Seine Geschichte liest sich wie eine Sammlung von Pleiten, Pech und Pannen. Das KKW-Projekt wurde mit der DDR begraben. Sein Rückbau wird aber noch einige Zeit beanspruchen. Viel schmerzlicher als die Existenz dieser Investruine ist die Tatsache, dass zu dem Zeitpunkt, da Maix Mayer sich dort umsah, ein ausgeschlachteter Lkw geparkt war. Tragisch ist das, weil das Nutzfahrzeug aus den späten Siebzigern stammt, also Oldtimer-Rarität ist. Warum man freilich auch ein Hausmodell im Maßstab 1:1 in das KKW-Geisterhaus setzte, bleibt ein Rätsel.
Aus Maix Mayers Einblick in den Verfall wird man mit einem Spruch entlassen, der auf einer Tafel des früheren VEB Kunstseidenwerk „Clara Zetkin“ im vogtländischen Elsterberg, das 1999 geschlossen wurde, zu lesen ist: „Du hast keine Sorgen? Ich kann Dir welche borgen!“

Maix Mayer: Die vergessenen Orte der Arbeit. Mit Texten von Emilia Thalheim, Mitteldeutscher Verlag, Halle 2013, 159 Seiten, 24,95 Euro.