von Andreas Dahms
Seit zwei Jahren sitze ich in einem Büro in der Zimmerstraße in Berlin-Mitte, ziemlich genau zwischen dem „Axel-Springer-Hochhaus“ und dem „Checkpoint Charlie“. Wenn ich aus dem Fenster schaue, sehe ich auf der gegenüberliegenden Seite, zirka 50 Zentimeter vor der Bürgersteigkante, den zweireihigen Pflastersteinstreifen, der den ehemaligen Mauerverlauf dokumentiert.
Damit gilt es festzustellen: Mein Büro liegt im Berliner Osten. Genau gegenüber befindet sich ein Geschäft mit der symbolträchtigen Bezeichnung „Trauringschmiede.de“. Über dem Schaufenster sind zwei ineinander verschlungene Ringe zu sehen. Der 2. Ring ist für den dort beginnenden Schriftzug aufgebrochen. Ein gut gewählter Ort für ein solches Geschäft, das sich mit Vereinigung beschäftigt
Jeden Morgen gegen 9.00 Uhr komme ich mit dem Fahrrad, manchmal auch mit meinem japanischen Kleinwagen, in der Zimmerstraße an, und es ist noch nicht viel los. Es scheint wie die Ruhe vor dem Sturm – diese Uhrzeit ist einfach zu früh für die Meinungsmacher dieses Systems. Die Bistros und Cafés, dir hier zu einem Parcours aufgereiht sind, füllen sich gegen 11.00 Uhr. Ich stelle mir dann immer die Frage, wann schreiben oder programmieren die Leute eigentlich ihre Produkte? Und so biege ich nach rechts ab, um zu meinem Tiefgaragenplatz im zweiten Untergeschoß auf der Ostseite zu kommen, eine schöne Ironie gedanklicher Richtungsspiele.
Bilder aus meiner Vergangenheit ziehen in meinen Gedanken an mir vorbei. Anfang der 1980er Jahre war ich schon ab und zu hier, auch an dieser Stelle. Aber es war anders. Die Kleidung wirkte uniformer und der Gürtel konnte von mir noch enger geschnallt werden. Und es hing ein Pistolenhalfter dran. Ich war damals bei den Grenztruppen, gerade mal 20 Jahre alt. Es war eine unwirklich-gespenstige Atmosphäre, eine bedrohliche Leere – das leise, elektronische Singen von Stacheldraht, eine geometrische Landschaft mit Barrieren. Es gab schon dieses Sehnsuchtsgefühl nach Weite, Neugierde auf das, was dahinter ist und ein Bewusstsein, es sind noch 45 Jahre, bis diese Neugierde gestillt wird. Ein Irrtum, es waren nur noch ganze neun Jahre.
Gegen 13.00 Uhr mache ich meine Runde. Pausenzeit. Es ist immer mein ganz persönlicher Kampf gegen die Cafés, den Inder, den Sushi-Laden, die Bäckereien, die Currywurststände, das Suppenbistro und andere Verlockungen. Ich begreife es ohnehin nicht, überall sitzen zwischen 11.00 Uhr und 15.00 Uhr die Männer im feinen Zwirn und Gel im Haar. Die Frauen tragen oft Kostüm und Stöckelschuhe, mit sonnengegerbter Haut und Guccibrille nach oben ins Haar geschoben. Nichts ist bei „Otto“ gekauft, eher im Umfeld der Friedrichstraße bei „Prada“ oder „Lafayette“.
Sie essen und trinken und sind schlank. An diesem so schicksalhaften Ort empfinde ich die Welt weiterhin als sehr ungerecht. Jeden Morgen stehe ich in Lichtenberg in meinem kleinen Bad und beschwöre meine Waage, bevor ich sie betrete. Oft könnte ich sie einfach nur treten, sie ist unerbittlich in ihrer Wahrheitsliebe, im Gegensatz zu den Presseerzeugnissen, die von meiner jetzigen Bürostraße auf den Markt spülen.
Zum Leidwesen meiner Freundin, lege ich nicht viel Wert auf Kleidung. Sie muss bequem sein, darf nicht schnüren. Und so spaziere ich tapfer am Spanier vorbei mit meinen Turnschuhen von „Deichmann“ und meiner Dreiviertelhose von „Adler“. Ich überlege, gerade heute Mittag gar kein Geld auszugeben, und in diesem Moment werde ich angesprochen. Ein entfernter Bekannter steht vor mir. Er ist erstaunt und fragt mich, was ich denn in dieser Gegend hier so suche? Für ihn sei das unverhofft. Also sage ich ihm, dass ich mich verlaufen habe, mich treiben lasse. Die Wahrheit würde er mir bei meinem Outfit in dieser Gegend wohl nicht glauben. Und ich habe doch Hunger. Der Vorsatz von eben geht gerade schnell über den Jordan. Es lockt doch die so schmackhafte Orangen-Ingwersuppe für 4,90 Euro. Dazu keine Cola, sondern Mineralwasser für das seelische Gleichgewicht.
Checkpoint Charlie: nun eine Häuserflucht, beliebig aussehend. Sie könnte überall stehen. Jeden Tag bin ich erneut fassungslos. Touristenströme, die nie versiegen. Stimmengewirr, wie es internationaler nicht sein kann. Die Bürgersteige haben große Mühe, die sich dort entlang schiebenden Menschenmassen zu bewältigen. Es kommt zu regelrechten Staus, bedingt durch kurze Fotopausen der Passanten. Autos haben hier nicht wirklich Vorfahrt, ohnmächtig müssen die Fahrer eine sich ergebende Lücke abwarten. Erst wenn die Passanten ein Einsehen haben und stehen bleiben, kann man weiterfahren. Für mich, der nur wenig Urlaub hat, ist der kurze Gang zu dieser Stelle wie eine Art Reiseersatz, das pralle Leben in seiner multikulturellen Vielfalt. Hier kann man erfahren, wie sich Metropole anfühlt.
Ich laufe ein Stück weiter, vielleicht 400 Meter. Ein längeres Stück originale Mauer ist erhalten. Dahinter verbirgt sich die Ausstellung „Topographie des Terrors“. Hier stand ein Palais, damals Prinz-Albrecht-Straße 8. Zuerst Sitz der Gestapo, 1939 dann das „Reichssicherheitshauptamt“. Geleitet von Reinhard Heydrich, dem Teufel in schwarzer Uniform, dessen Abstraktionsvermögen ihn am 20. Januar 1942 zu einer Konferenz in eine Villa am Wannsee führt. Im gleichen Jahr am 4. Juni führt es ihn im Prager Stadtteil „Liben“ in einer Haarnadelkurve in den eigenen Tod. Seit ich hier arbeite, war ich bereits zweimal in der Ausstellung. Das Frösteln in mir ist noch intensiver als damals Anfang der 1980er Jahre, zirka 600 Meter von hier in östlicher Richtung auf der gleichen Straße.
Ich bin dankbar und zugleich auch ein wenig nachdenklich, dass ich hier jetzt arbeiten kann. Zwei Kreise schließen sich hier für mich – der persönliche und der geschichtliche. Es war die Straße der Machtzentrale für die Organisation des Genozids, die Nahtstelle zweier Systeme in Folge des 2. Weltkriegs und nun einer der Orte Berlins, der für die Wiedervereinigung steht und Erinnerung wach hält.
Wenn ich dann im verbleibenden Drittel meines Lebens, wider Erwarten, doch noch heiraten würde, dann wäre das hier. Ich würde meine Braut auf beiden Bürgersteigseiten küssen, ihr und der Straße eine Orchidee schenken und mit ihr beim Italiener in der Friedrichstraße essen und Wein trinken, ohne über Kalorien nachzudenken.
Schlagwörter: Andreas Dahms, Berlin, Zimmerstraße