von Gerd Kaiser
Von der Erfindung und Vernichtung des Untermenschen, der Planung des Völkermordes und der beabsichtigten Neuordnung Europas legen bisher zwei Inszenierungen des Dokumentar-Theater-Projekts Zeugnis ab. Die Projekte des Historikerlabors e. V. gehen der Frage nach, ob und inwieweit man im Prozess der Dramatisierung von Geschichtsdokumenten, die von Raubzug und Völkermord handeln, das Undarstellbare darzustellen vermag. Dazu wird kein fiktiver Text geschrieben, die Textvorlagen des Theater-Projektes sind authentisches Material. Es wird so arrangiert, dass die Dokumentation der eigenen Forschungsergebnisse als ein künstlerisch wirkendes Werk dargebracht wird. Die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, treten in ihrer Rolle als Historiker auf, nicht als Schauspieler. Sie begeben sich auf historiographische Spurensuche und setzen so ihre eigene Auseinandersetzung mit den Quellen und der Sprache der Täter in Szene. Konzeption und Künstlerische Leitung des Projektes insgesamt sowie die Regie der jeweiligen Inszenierungen liegen bei dem Historiker Christian Tietz, die Dramaturgie bei der Literaturwissenschaftlerin Kalliniki Fili.
Aus der Taufe gehoben wurde das Dokumentar-Theater-Projekt 2013 an Hand des Protokolls der Wannsee-Konferenz. Eingeladen vom Chef des Reichs-Sicherheits-Haupt-Amtes Reinhard Heydrich, berieten 15 ranghohe Vertreter von SS und Ministerialbürokratie am 20. Januar 1942 einen einzigen Tagesordnungspunkt, die sogenannte Endlösung der Judenfrage. Nach der Beratung über den Tod von elf Millionen Menschen bis hin zu finalen „Lösungsmöglichkeiten“ genehmigten sie sich ein „abschließendes Frühstück“.
Am historischen Ort, der heutigen Gedenk- und Bildungsstätte Haus der Wannsee-Konferenz am 20. Januar 2013 uraufgeführt, folgten Inszenierungen an weiteren Orten, darunter im Maxim-Gorki Theater zu Berlin. Seit Anfang 2014 ist auch eine DVD mit einer filmischen Projektdokumentation erhältlich. Die Arbeit an diesem ersten Dokumentar-Theater-Projekt und dessen Widerhall führte nicht nur zur Gründung des Historikerlabors e. V., sondern steht inzwischen für den Anfang der Trilogie über die Opfer und Ziele der rassistischen Politik des Deutschen Reiches. Der vollständige Projekttitel: „Die Erfindung und Vernichtung des Untermenschen. Der organisierte Mord an Juden, Slawen, Sinti und Roma“. (Ihren Abschluss wird die Trilogie am 20. Februar 2015 ebenfalls am historischen Ort und mit einem fiktiven Symposium unter internationaler Beteiligung im heutigen Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte in Berlin-Dahlem unter dem Titel „Die Endlösung der Zigeunerfrage. Der Zusammenhang von Vorurteil, Wissenschaft und Völkermord“ finden.)
Die spannende Uraufführung des zweiten Dokumentar-Theater-Projekts, des Mittelstückes der Trilogie, fand kürzlich im zuschauerfreundlichen „Deutsch-Russischen Museum“ Berlin-Karlshorst statt. Titel der Inszenierung: „Die Hungerplan-Konferenz. Die Neuordnung Europas und der Vernichtungskrieg“. Auch diesmal waren der Ort und das Datum der Vorstellung mit Bedacht gewählt. In „Karlowka“, im Offizierskasino der Festungspionierschule Karlshorst, dem heutigen Museum, unterzeichneten Generalfeldmarschall Wilhelm Keitel, Chef des Oberkommandos der Wehrmacht sowie je ein Vertreter der Reichskriegsmarine und der Luftwaffe am 8. Mai 1945, die bedingungslose Kapitulation der Wehrmacht vor Vertretern der Anti-Hitlerkoalition. In eben diesem Raum stellte das Historikerlabor seine zweite Dokumentar-Theater-Inszenierung am 2. Mai vor.
Hatte im Auftrage Keitels die „Besprechung mit den Staatssekretären über Barbarossa“ doch am 2. Mai 1941, im dritten Kriegsjahr und anderthalb Monate vor dem Einmarsch der Wehrmacht in der UdSSR stattgefunden.
Die Kernpunkte der Besprechung vom 2. Mai konzipierten auf einem einzigen DIN-A4-Schreibmaschinentext die Vorgehensweise bei der „Neuordnung Europas“, eines Wirtschaftsraums unter großdeutscher Führung bis zum Ural. Handfeste, detaillierte Maßnahmen einschließlich der Planstellen und Aufgaben für die Vollstrecker und Richtlinien zur Verwirklichung der Eroberungs- und Vernichtungspolitik folgten unverzüglich. Zusammengefasst in der „Grünen Mappe“ mit einer Auflage von 1.000 Exemplaren, trug eine der Geheimen Kommandosachen den Titel: „Richtlinien für die Führung der Wirtschaft“. Sie traten bereits ab 16. Juni 1941 in Kraft. Auf eine 1958 im Fernsehen der DDR gesendete erste szenische Dokumentation „Die grüne Mappe“ nahm die Vorstellung in Karlshorst und ihre Begleitmappe bedauerlicherweise keinen Bezug.
Die Ausplünderung des Sowjetlandes und der Hungertod von „zig Millionen“ wurden nicht nur billigend „in Kauf genommen“, sie waren erklärtes Endziel höchster Politik. „Unsere Aufgabe, Rußland wieder arbeitsteilig in Europa einzubeziehen, bedeutet zwangsläufig die Zerreißung des jetzigen wirtschaftlichen Gleichgewichts innerhalb der UdSSR (…). Daraus erfolgt zwangsläufig ein Absterben sowohl der Industrie wie eines großen Teils der Menschen in den bisherigen Zuschussgebieten.“ Leider blieb die Mitwirkung deutscher Großunternehmen bei der Kriegszielplanung und der Aufteilung der Beute in dieser Inszenierung unberücksichtigt.
Keitel, Chef des Oberkommandos der Wehrmacht, stand für die Verbindung von „Barbarossa“ und „totalem Krieg“, von Kriegsplanung und totaler Niederlage. Keitels Wehrwirtschafts- und Rüstungsamt hatte bei der Beratung mit den Staatsekretären am 2. Mai 1941 die Wegmarken für den Eroberungs- und Raubkrieg skizziert. Wehrmachtführung und Ministerialbürokratie legten auch die Ausführungsbestimmungen für die wirtschaftliche Neuordnung Europas fest. Zentralinstanzen des NS-Staates, neben dem OKW, vor allem die Reichsministerien für Wirtschaft, Ernährung und Landwirtschaft sowie Himmlers Beauftragter für den Generalplan Ost und der sogenannte Chefideologe der Nazipartei und designierte Chef des Ostministeriums Alfred Rosenberg arbeiteten Hand in Hand zur Vorbereitung des als Blitzkrieges gedachten bevorstehenden Feldzuges: „Der Krieg ist nur weiter zu führen, wenn die gesamte Wehrmacht im 3. Kriegsjahr aus Rußland ernährt wird.“ Der Krieg ernährt bekanntlich den Krieg, er ernährte seinen Mann…
In erster Linie ging es um dringend benötigte Rohstoffe für die Kriegführung, um Erdöl, Kohle, Erze, um Treibstoff für Panzer und Flugzeuge, um metallurgische Erzeugnisse für die Kriegswirtschaft (so auch im Raum Donezk und Transkaukasien). Darüber hinaus sollten vor allem Fleisch, tierische und pflanzliche Fette, Butter, Sonnenblumen- und Leinöl, Zucker (gerechnet wurde mit etwa 250 000 Tonnen, Eier (sie wurden nach hundert Millionen gezählt), Brot- und Futtergetreide (jährlich mehr als 100 Millionen Tonnen), aber auch Flachs, Hanf, Soja und Baumwolle vor allem aus der Ukraine und Südrussland „herausgeholt“ und der Versorgung der Wehrmacht, aber auch der Zivilbevölkerung im Deutschen Reich „zugeführt“ werden.
Da sich in der Aktennotiz über die Hungerplan-Konferenz keine Teilnehmerliste befindet, ermöglichen erst später ausgefertigte Protokolle und andere Akten den Historikern einen tatsachengesättigten und interpretatorischen Blick auf die zerstörerische wie größenwahnwitzige Kriegsplanung.
Durch individuelle biographische Recherchen entwickelten die Historiker des Labors aus historischen Quellen und eigenen Kommentaren eine multi-perspektivische Textfassung, die sie selbst vorstellen, als Historiker von heute mit dem reflektierenden Blick auf die historischen Personen. In einem zweimonatigen Arbeits- und Probenprozess entstand ein in sich geschlossener, wissenschaftlich gesicherter und überzeugender Text aus Originalquellen und Kommentaren, dessen Inszenierung aus einem wissenschaftlichen Experiment ein Dokumentar-Theaterstück entstehen ließ.
Ein eigenständiges Element dieses sehenswerten Amalgams aus historischer Analyse und künstlerischer Präsentation ist die Einbeziehung der Lebenserfahrungen von Opfern der Eroberungs- und Vernichtungspolitik in die Inszenierung. Die Planer wie die Vollstrecker des „Hungerplans“ behandelten auch die Menschen als abstrakte statistische Größe. Allein im blockierten Leningrad sahen Artilleriebeobachter in vorderster Linie ebenso wie hohe und höchste Stabsoffiziere zu, wie zwischen 900.000 und 1,1 Millionen eingekesselte Menschen verhungerten und erfroren. Die Zeitzeugentexte der Inszenierung geben den Opfern Namen und Stimme. Sie wurden von Schülerinnen der Berliner Heinrich-Hertz-Oberschule gelesen. Ausgenommen Doroteja Palej (Jahrgang 1936). Sie, die „bis jetzt nichts tun oder denken kann, wenn ich Hunger habe oder es kalt ist“, überlebte als Kind in Leningrad, trug ihren Text selbst vor. Von Berliner Schülerinnen vorgetragen wurden Auszüge aus den Erlebnissen von Tamara Bytschok, die 1941-1945 im Mogiljower Gebiet von Belorus überlebte, Viktor Sosow (geboren 1933) der 1941-1943 in Kiew und danach als Zwangsarbeiter in Deutschland war sowie von Berl (Boris) Kostinski (geboren 1920), Kriegsgefangener und Zwangsarbeiter von 1941 bis 1945. Allein im Gefangenenlager Luckenwalde, das er durchlitt, verhungerten oder starben an Flecktyphus unter unmenschlichen Lebensbedingungen, mitten in Deutschland, in wenigen Wintermonaten zwischen November 1941 bis Februar 1942 20.000 Kriegsgefangene. Sie gehören zu den mehr als drei Millionen zu Tode gebrachten sowjetischen Kriegsgefangenen.
Im Gespräch mit der Enkelin Nora, Studentin der Zeitgeschichte an der FU Berlin, die mich zu der Vorstellung eingeladen hatte, erinnerten wir uns nach dem Gehörten auch an die toten Säuglinge, Kinder, Jugendliche und Erwachsene aus dem Zwangsarbeiterlager der Berlin-Suhler Waffen-und-Fahrzeugwerke, die auf dem Friedhof meines Heimatdorfes im Thüringer Wald beigesetzt worden sind und deren letzte Ruhestätte auch von unserer Familie gepflegt wird.
Wer mehr zum Thema und zu den Inszenierungen wissen will: www. historikerlabor.de.
Für den Eintrittspreis von 15 Euro zur Vorstellung (Studenten zahlen weniger) erhält der Besucher den Begleitband „Das Dokumentar-Theater-Projekt. Die Hungerplan-Konferenz. Die Neuordnung Europas und der Vernichtungskrieg – 2. Mai 1941“ mit dem kompletten Stücktext der Inszenierung „Die Hungerplan-Konferenz“ und dem Stücktext „Zeitzeugen“. Das Begleitmaterial enthält außerdem wichtige Täter-„Biographien“, weiterführende „Literaturhinweise“ und eine „Chronik“ zum Thema der Inszenierung.
Anm. der Red.: Am 22. Juni jährt sich der Tag des Überfalls Hitlerdeutschlands auf die Sowjetunion.
Schlagwörter: Deutsch-Russisches Museum Karlshorst, Gerd Kaiser, Historikerlabor e.V., Hungerplan, Maxim-Gorki-Theater, Wannsee-Konferenz