von Edgar Benkwitz
Indien hat gewählt. Das überwältigende Votum für eine Person, eine politische Partei und ein Konzept hat nicht nur in Indien, sondern weltweit für großes Aufsehen gesorgt. Plötzlich ist der „kranke Mann“ Asiens, wie Indien zuletzt bezeichnet wurde, wieder in das Interesse der Weltöffentlichkeit gerückt. Er hat gezeigt, dass in ihm Kräfte schlummern, die nur darauf warten geweckt zu werden. Doch in welche Richtung werden diese gelenkt, wer zieht daraus den größten Nutzen?
Zunächst jedoch die Fakten. Die hindunationalistische Indische Volkspartei (BJP) hat mit 282 Sitzen (von 543 möglichen) im Unterhaus die absolute Mehrheit erreicht, mit ihren bisherigen Verbündeten sogar 335! So etwas gab es das letzte Mal vor 30 Jahren, als nach der Ermordung von Indira Gandhi deren Sohn Rajiv mit der Kongresspartei auf einer Welle des Mitleids und der Sympathie in das Amt des Premierministers getragen wurde. Jetzt war es eine Welle der Hoffnung und Erwartung, die Narendra Modi mit seiner BJP in eben dieses Amt trug. Die einst so stolze Kongresspartei, die das Land seit der Unabhängigkeit fast ununterbrochen regierte, wurde mehr als abgestraft – 44 Sitze reichen nicht einmal, um als Führer der Opposition im Parlament anerkannt zu werden. Nur vier Sitze erzielte die Aam Admi Partei, die Partei des einfachen Mannes, vor einem halben Jahr noch allseitig hofiert und als neuer Hoffnungsträger gehandelt. Die kommunistischen Parteien erhielten nur noch 2 Mandate. Auch der Einfluss der großen Regionalparteien ging merklich zurück. Ausnahmen sind die Unionsstaaten Westbengalen und Tamilnadu, die sich der BJP und der Kongresspartei fast vollständig verweigerten.
Indien wurde noch vor einigen Jahren als einer der zukünftigen „global players“ angesehen, doch die Aufbruchstimmung versiegte schnell. Weltwirtschaftliche aber vor allem hausgemachte Probleme verlangsamten das Entwicklungstempo immer mehr. Die regierende Kongresspartei selbst wurde in diesen Strudel gerissen – es fehlte an kreativen Ideen. Notwendige Reformen wurden nicht durchgeführt, Selbstgefälligkeit dominierte. Das war das Klima, das sowohl Korruption als auch Bürokratie begünstigte. Leidtragende waren nicht nur die Armen und Ausgegrenzten, sondern auch große Teile der schnell wachsenden Mittelschichten, die keine Perspektive für ihre Entwicklung sahen. Resignation und Apathie machten sich breit. Der Ruf nach einer effektiven Regierung, gar nach einem „starken Mann“, wurde immer lauter.
Nicht zufällig wurde diese Situation der Stagnation und des Niedergangs von Vertretern der hindunationalistischen Bewegung am klarsten erkannt und entschlossen ausgenutzt. Nicht nur, dass sie mit der BJP über eine starke politische Kraft verfügen, ihr Gedankengut kann sich auch auf eine breite Basis stützen. Ihre Ideologen plädieren seit langem für ein starkes Indien mit einem starken Führer, dessen einende Idee die hinduistische Denk- und Lebensweise ist. Und mit Narendra Modi verfügten sie über eine Persönlichkeit, die die nötigen Qualitäten mitbrachte, um im Wahlkampf die BJP zum Sieg zu führen. Modi stammt aus ärmlichen Verhältnissen und gehört einer niederen Kaste an. Er hat Rückständigkeit und Ungerechtigkeit am eigenen Leib erfahren. Heute ist er mit 63 Jahren ein erfahrener Politiker, der in zwölfjähriger Arbeit als Ministerpräsident seinen Staat Gujarat vorangebracht hat. Hier bewies er sich als fähiger Administrator, trat entschlossen gegen Korruption und Bürokratie auf. Kein Wunder, dass die einheimische Wirtschaft, aber auch das Auslandskapital Gujarat bevorzugten. Im Wahlkampf begeisterte er mit seinem fesselnden rhetorischen Talent. Doch es war letztendlich seine Botschaft, die die Wähler ansprach. Er versuchte, diese wachzurütteln und aus Apathie und Resignation zu führen. Dreh- und Angelpunkt seines Herangehens ist dabei die Entwicklung der Wirtschaft, die Schaffung von Arbeitsplätzen und so die schrittweise Überwindung der Armut. Diese Argumentation verband er geschickt mit Appellen, denen man sich schwerlich entziehen kann: Indien müsse sich von einem Problemland und Bittsteller zu einer Anspruchsgesellschaft entwickeln, die vornehmlich an Wachstum interessiert sei. Nur so könne das Land auch international eine entscheidende Rolle spielen.
In dem monatelangen Wahlkampf wuchs Modi über sich hinaus. Beobachter bewunderten seine schier endlose Energie: Er sprach auf 550 Massenveranstaltungen und legte insgesamt 300.000 Kilometer zurück. Sein Wahlkampf war ein Muster an Organisation, das den aller anderen Bewerber weit in den Schatten stellte. Sein schärfster Widersacher, Rahul Gandhi von der Kongresspartei, war dem nicht gewachsen. Er hatte programmatisch wenig zu bieten, verlegte sich stattdessen ständig auf das Polemisieren. Unerfahrenheit und Arroganz versperrten ihm zusätzlich den Zugang zu den Wählern. Das unbedingte Festhalten der Kongresspartei an diesem Vertreter der Nehru-Gandhi-Familie erwies sich als Fehler.
Für Narendra Modi ist das Mandat der Wähler eindeutig ausgefallen, die Erwartungen sind hoch, zumal die Mehrheit im Parlament ihm günstige Möglichkeiten eröffnet. Wird er diesen Erwartungen gerecht werden und mit welchen Mitteln wird er das bewerkstelligen? Die Zusammensetzung der Regierung und die Regierungserklärung werden erste Hinweise auf den zu steuernden Kurs geben. Vergessen werden sollte dabei nicht, dass der neue Premierminister natürlich seiner Partei und deren nachgestellten Organisationen verpflichtet ist, die die treuesten Wahlhelfer waren. Sie werden ihre Ansprüche anmelden, und Modi wird hier sicherlich Zugeständnisse machen müssen.
Aber der neue Premierminister hat bewiesen, dass er ein Kämpfer ist. Das zeigte er nicht nur im Wahlkampf. Es wird auch in seiner Partei immer sichtbarer. Obwohl nicht Parteivorsitzender, hat er praktisch die Führung der BJP in die Hand genommen. Die alte Führungsgarde, die sich teilweise gegen seine Nominierung als Spitzenkandidat ausgesprochen hatte, wurde von ihm an den Rand gedrückt. Das geht lautlos und scheinbar im besten Einvernehmen vor sich. Modi mag keine Rivalen, er ist autoritär, so die Auffassung von Experten. Der US-Amerikaner Walter Andersen, seit Jahren Spezialist für Hindunationalismus, kennt Narendra Modi seit 1990. In einem Interview mit der Times of India sprach er auch über Modis Verhältnis zur RSS, der „Nationalen Freiwilligenorganisation“ – Kaderschmiede und ideologische Vorhut der hindunationalistischen Bewegung. Ihr trat Modi bekanntlich schon als Jugendlicher bei. Hier wurde er zum Propagandisten ausgebildet. Die RSS bestimmte seinen Weg über den Generalsekretär der BJP bis zum Ministerpräsidenten von Gujarat. Andersen führt nun aus, dass Modi aufgrund seiner Anlagen und seines Charakters nicht dem Bild eines RSS-Mitgliedes entspricht. Er wurde in dieser Organisation offensichtlich nur wegen seiner außergewöhnlichen Eigenschaften geduldet und gefördert. Sein Verhältnis zur RSS wird als „kalt“ bezeichnet. Äußerst interessant sind auch einige weitere Einschätzungen. So gehöre Modi auf keinen Fall zum rechten Flügel der BJP. Er wende sich auch gegen das archaische Swadeshi-Konzept, von Parteiideologen in Anlehnung an Mahatma Gandhis Selbstversorgungsprojekt vertreten. Vielmehr sei er ein Bewunderer des in den USA lehrenden bedeutenden indischen Ökonomen Jagdish Bhagwadi, der eine entwicklungsorientierte Wirtschaft propagiert. Außenpolitisch erwartet Andersen eine größere Hinwendung Indiens zu Japan und China, vor allem auch, um Investitionen ins Land zu holen. Die USA würden nicht im Zentrum der Bemühungen Modis stehen.
Narendra Modi wird am 26.Mai als Premierminister Indiens vereidigt werden. In dieser Funktion wird er mit vollkommen neuen Problemen konfrontiert, andere Maßstäbe als bisher werden an ihn angelegt werden. Er wird beweisen müssen, was in ihm steckt. Auf jeden Fall haben die Millionen indischer Wähler Schwarzmalerei und Verteufelung, wie sie am Tag nach der Bekanntgabe der Wahlergebnisse in den deutschen Medien anzutreffen waren, nicht verdient. Indien steht zweifellos vor einem interessanten Abschnitt seiner Geschichte.
Schlagwörter: BJP, Edgar Benkwitz, Indien, Kongresspartei, Narendra Modi, Unterhauswahlen