von Alfons Markuske
180 Veranstaltungen für kleine und große Bücherfreunde in zehn Tagen. Die 14. lit.Cologne (12.-22. März 2014) war einmal mehr eine Art Literatur-Olympiade, allerdings eine ohne Verlierer, mit einer außerordentlichen Phalanx an aufgebotenen Literaten, Vorlesern und nicht zuletzt Moderatoren, von der Tatsache praktisch durchweg ausverkaufter Säle ganz abgesehen.
Sicher mag es allein der großen Zahl der Veranstaltungen wegen auch wieder schwächere gegeben haben. Ich allerdings wohnte keiner solchen bei. Trotzdem sind die nachfolgenden Impressionen ebenso subjektiv wie eklektizistisch: Allein davon bestimmt, für welche Veranstaltungen es mir mit Hilfe festivalgestählter Freunde vor Ort gelungen war, für meinen auf fünf Tage limitierten Köln-Aufenthalt Karten zu ergattern.
Der zuvor gänzlich unbekannte schwedische Überflieger Jonas Jonasson hatte mit seinem Erstling „Der Hundertjährige, der aus dem Fenster stieg und verschwand“ nicht nur völlig zu Recht Weltberühmtheit erlangt, sondern auch Wohlstand in einem Maße, das den Erwerb eines Eigenheims in der Abgeschiedenheit von Gotland – die Ostseeinsel wird das schwedische Paradies genannt – gestattet. Dort hat Jonasson seiner 25 Hühner so unzureichend geachtet, dass Fuchs, Habicht und Adler deren Reihen inzwischen auf 15 gelichtet haben. Diese bedauerlichen Schicksale waren nicht zuletzt dem Sachverhalt geschuldet, dass der Schriftsteller seinem Zweitling Gestalt und Vollendung gab: „Die Analphabetin, die rechnen konnte“. In Deutschland inzwischen bereits 900.000 Mal verkauft und zumindest von daher nicht der „ausgesprochene Rohrkrepierer“ voller „haarsträubendem Blödsinn“, den ein führendes deutsches Nachrichtenmagazin in einer frühen Besprechung („Der Knaller, der nicht zündete“) entdeckt hatte. Befragt zu den Gemeinsamkeiten und Unterschieden beider Bücher, gab Jonasson eine denkbar kurze, aber wahrscheinlich trotzdem erschöpfend zutreffende Antwort: „Same, same but different.“ Um mit den Unterschieden zu beginnen – statt eines steinalten naiven männlichen weißen schwedischen Helden steht dieses Mal eine blutjunge superkluge weibliche schwarze südafrikanische Heldin im Mittelpunkt. Ansonsten aber geht es wieder um jene teils aberwitzigen Dummheiten, teils dummen Aberwitzigkeiten der menschlichen Spezies – nicht zuletzt auf höchster politischer Ebene –, deren Summe erst Zeit-, später Weltgeschichte genannt wird und die am besten zu erkennen sind, wenn man sie, wie Jonasson, zur Groteske verdichtet aneinanderreiht beziehungsweise miteinander verknüpft. Mit der Atombombe als einer Art roter Faden. Was der Schriftsteller an diesem Abend über seinen Zweitling erzählte und was der dafür bestens geeignete Rufus Beck zwischen den Buchdeckeln hervorlas, ließ im Übrigen gelinde Zweifel am Verdikt der bereits erwähnten Besprechung aufkommen. Letzten Aufschluss wird da aber nur das Lesen oder zumindest Hören des neuen Schelmenromans geben.
Hakan Nesser zählt seit seiner in bester schwedischer Manier auf zehn Bände angelegten und damit dem Vorbild des legendären Duos Maj Sjöwall / Per Walhöö folgenden Van-Veteren-Reihe zu meinen Favoriten unter den skandinavischen Krimi-Autoren. (Wie übrigens auch Arne Dahl mit seinem inzwischen ebenfalls abgeschlossenen Dekalog um das A-Team, die Sondereinheit der schwedischen Reichskriminalpolizei für Gewaltverbrechen von internationalem Charakter.) Der Genuss von Nessers intelligenten Krimis und Thrillern, die zugleich Gesellschaftsromane, zum Teil von Balzacscher Wucht, sind, lässt sich im Übrigen leicht duplizieren – durch von Dietmar Bär eingelesene Hörbuchfassungen. (Was solche an neuen Facetten, Sichten und Verständnis gegenüber dem geschriebenen Wort erschließen, wäre einmal einen eigenen Essay wert.)
Bei der lit.Cologne saßen Nesser und Bär gemeinsam auf der Bühne. Der schwedische Autor hatte bereits zu Zeiten, in denen er zwar schon schriftstellerte, aber noch als Lehrer tätig war, seinen Schülern auf deren Frage, worüber er gerade schreibe, geantwortet: über das Leben, die Liebe und den Tod. Dabei ist es seither geblieben. Und nicht in diesen Grundfragen, deren Trinität den Kern der menschlichen Existenz ausmacht und an der sich bereits die comédie humaine „abarbeitete“, liegt das immer wieder Fesselnde der Nesserschen Romane, sondern in der Komplexität und in den unendlichen Kombinationsmöglichkeiten von deren konkreten Erscheinungsformen und Zusammenspiel.
Auf dem Schutzumschlag seines jüngsten Werkes, „Der Himmel über London“, hätte Nesser gern einen Aufdruck des Verlages gesehen: „Wer einen Krimi erwartet, bitte nicht lesen!“ Ein Thriller ist es gleichwohl trotzdem geworden – über einen 70-Jährigen, der, tödlich erkrankt, die letzten Dinge seines Lebens auf seinem finalen Geburtstagsdinner in London regeln will und dafür sechs Gäste einlädt. Neben seiner Frau und deren beiden Kindern zwei weitere, die diesen dreien unbekannt sind. Als Geschichte in der Geschichte kommt auch eine Spionagestory vor. Die kongeniale Moderatorin Margarete von Schwarzkopf verglich die Konstruktion des Romans daher treffend mit der einer russischen Matroska. Und da Nesser, wie die Moderatorin betonte, zugleich ein gutes Beispiel dafür sei, dass Schriftsteller nicht zuletzt die Summe ihrer Bibliothek wären, sei der Thriller überdies mit zahlreichen Anspielungen auf Werke anderer Autoren gespickt.
Die Lesung durch Dietmar Bär gab einen Vorgeschmack darauf. Das begann mit dem ersten Satz, mit dem sich Nesser vor Agatha Christie („16.50 Uhr ab Paddington“) verneigt und setzte sich fort mit der weiblichen Protagonistin der Spionagegeschichte. Die ist Tschechin und heißt Carla: George Smileys KGB-Gegenspieler aus John Le Carrés Spionage-Klassikern lässt grüßen – ungeachtet des Unterschieds der Initiale. Damit hat sich Nesser für diesen Strang seines Romans die Messlatte allerdings zugleich auf schwindelerregende Höhe gelegt. Ob er diese Herausforderung gemeistert hat? Das könnte ich nicht einmal dann verraten, wenn ich wollte, denn das Lesen des Romans habe ich noch vor mir.
Im Übrigen ist der von Dietmar Bär mehrfach skandierten, von der Moderatorin ohne Zögern unterstützten Aufforderung vorbehaltlos zuzustimmen, Hakan Nesser möge von seiner erklärten Absicht, seinen inzwischen fünf Romanen um den schwedischen Kommissar mit den italienischen Wurzeln, Gunnar Barbarotti, keinen weiteren folgen zu lassen, doch bitteschön Abstand nehmen!
Bildendes wie Unterhaltsames bot die lit.Cologne einmal mehr aber auch mit anderen Formaten. So unternahmen Roger Willemsen und Charly Hübner den Versuch, den amerikanischen Schriftsteller Upton Sinclair (1878-1968) dem unverdienten Vergessen zu entreißen. Der hatte einst undercover in den Schlachthöfen von Chicago die dortigen hygienischen und sozialen Missstände recherchiert. Sein Roman „Der Dschungel“ (1905) war die Geburtsstunde des investigativen Journalismus. Und die Verfilmung seines Romans „Öl“ (1927) brachte vor wenigen Jahren Daniel Day-Louis einen Oscar als bester Hauptdarsteller. Upton Sinclair ist im neoliberalen Spätkapitalismus wieder oder vielleicht besser immer noch aktuell.
Und zwischendurch darf’s durchaus auch mal leichte – intelligente – Kost sein. Beispielsweise der Berliner Kabarettist Horst Evers mit seinem jüngsten Buch „Wäre ich Du, würde ich mich lieben“. Darin berichtet er unter anderem von seinem bulgarischen Gemüsehändler, der mit deutschen Sprichwörtern hadere. So etwa mit „Die Pünktlichkeit ist die Höflichkeit der Könige“. Warum sollten Könige höflich sein, frage sich der Herr über Tomaten und Paprika. Lebensnäher sei da doch wohl eine bulgarische Weisheit: „Wer pünktlich kommt, auf den wartet keiner.“ Wer wollte da widersprechen …
Wird fortgesetzt.
Schlagwörter: Alfons Markuske, Hakan Nesser, Horst Evers, Jonas Jonasson, lit.Cologne, Upton Sinclair