17. Jahrgang | Nummer 3 | 3. Februar 2014

Scheitern an der Lüge

von Heerke Hummel

Da erhält im Juli 1948 ein achtzehnjähriger Flüchtlingsjunge aus Breslau an der Oberschule Dresden-Ost von seiner Russischlehrerin ein Buch als „Prämie für fleißiges Lernen in der Klasse 9s“. Dessen Titel: „W. G. Korolenkos Leben“, von A. Dermann, eine Übersetzung aus dem Russischen und 1947 im Verlag der Sowjetischen Militäradministration erschienen. Ein paar Seiten liest der Junge darin, dann legt er das Buch zur Seite und vergisst es. Er hat andere, Nachkriegssorgen, die sich um den persönlichen Lebensunterhalt drehen.
Doch gute vier Jahrzehnte später, als das Bundesgesetz „Rückgabe vor Entschädigung“ ihn zum wohl letzten Wohnungswechsel zwingt, fällt ihm beim Umzug der „Korolenko“ wieder in die Hand. Der Name wird ihm ein Begriff, und als er zufällig irgendwo auf Korlonkos autobiografisches Werk „Die Geschichte meines Zeitgenossen“ stößt, greift er zu. Zur größten Überraschung darin werden ihm die klein gedruckte Bemerkung „Aus dem Russischen übersetzt und mit einer Einleitung versehen von Rosa Luxemburg“ sowie am Ende der Einleitung der Hinweis „Geschrieben im Strafgefängnis Breslau, im Juli 1918. R. Luxemburg“.
Das Buch wühlt ihn auf, lässt ihm keine Ruhe. Denn Helmut Hauck, von dem hier die Rede ist, hat eine Spur aufgenommen, die ihn auch zu sechs Briefen führt, die der bedeutende, bei uns wohl nur wenig bekannte russische Schriftsteller und Humanist Wladimir Galaktionowitsch Korolenko zwischen Juni und September 1920 dem Volkskommissar für das Bildungswesen Russlands, Anatoli Wassiljewitsch Lunatscharski, schrieb. Sie sind erschütternde Zeugnisse der damaligen Verhältnisse im Reich der Bolschewiki und zugleich ein Beleg für die außerordentliche Kraft und Bedeutung von Wahrheit. Und sie sind im Hinblick auf diese Bedeutung eine dringende Mahnung über die Jahrzehnte hinweg bis heute – für jeden von uns, besonders aber für die Politik. Hauck wollte den Schatz, auf den er gestoßen war, nicht für sich behalten, und veröffentlichte nun Rosa Luxemburgs Einleitung zu Korolenkos Buch sowie die sechs Briefe von Korolenko in einer Broschüre.
Jene Einleitung dürfte so manchem Lesers Bild von Rosa Luxemburgs Geist einen bedeutsamen Aspekt hinzufügen. Denn sie unternimmt darin einen außerordentlich tiefgründigen Vergleich zwischen der russischen und der westeuropäischen Literatur. Hauck: „Selbst während meines Studiums der russischen Literatur war mir so eine dialektisch ausgewogene, sozial bezogene Charakterisierung der russischen Literatur von ihrer Entstehung bis Gorki nicht zur Kenntnis gelangt.“
Ihren literaturhistorischen Vergleich unterlegt Rosa Luxemburg auch mit Betrachtungen zur gesellschaftlichen Psychologie und stellt fest: „Es wäre verfehlt, die von Korolenko charakterisierte Psychologie als spezifisch russisch oder nur mit der Periode der Leibeigenschaft verbunden zu betrachten. Jene Stimmung der Gesellschaft, die, frei von nagender Selbstanalyse und innerem Zwiespalt, die ‚gottgewollten Abhängigkeiten‘ wie etwas Elementares empfindet und die Fügungen der Geschichte als eine Art Himmelsschickung hinnimmt, für die man so wenig verantwortlich sei wie dafür, dass der Blitz manchmal ein unschuldiges Kindlein erschlägt, kann sich mit verschiedensten politischen und sozialen Systemen vertragen. Sie ist auch in der Tat noch unter modernen Verhältnissen anzutreffen, sie war namentlich bezeichnend für die Psychologie der deutschen Gesellschaft während der ganzen Dauer des Weltkrieges.“ Und heute? Wer stellt schon – von wenigen Opponenten abgesehen – beispielsweise die unbegrenzte Freiheit privaten Eigentums in Frage? Wer ist bereit, die objektiv gegebene Gesellschaftlichkeit von Geld- und Produktivfonds anzuerkennen und daraus Konsequenzen für eine allgemeine Gesetzesreform und für öffentliche Kontrollinstrumente zu ziehen? Oder auch nur ernsthaft darüber nachzudenken?
Als ausgezeichnete Kennerin der russischen und westeuropäischen Literatur erweist sich Rosa Luxemburg, wo sie auf einzelne bedeutende Schriftsteller vergangener Jahrhunderte eingeht. Doch das eigentliche Anliegen ihrer hier besprochenen Einleitung sind natürlich die Würdigung Korolenkos und – anhand seines Wirkens – der Nachweis, dass die russische Literatur des 19. Jahrhunderts „aus Opposition zu dem herrschenden Regime, aus Kampfgeist geboren wurde“. Dazu Hauck ergänzend: „Was Rosa Luxemburg gewiss ahnte, jedoch nicht mehr erleben konnte, war, dass Wladimir Korolenko seiner hohen humanistischen Verantwortung auch gegenüber der neuen Macht, den Bolschewiki nach der Oktoberrevolution, gerecht wurde.“
Um dies zu zeigen und Rosa Luxemburgs Würdigung des russischen Literaten quasi zu ergänzen, hängte er ihrer Einleitung Korolenkos Briefe an Lunatscharski an. Korolenko setzt sich darin mit den furchtbaren Ereignissen während des Bürgerkrieges in Russland und der Politik der Bolschewiki auseinander. Er berichtet dem Adressaten von Gräueltaten des Geheimdienstes Tscheka, schildert die Unreife des russischen Volkes für kommunistische Verhältnisse anhand des Verhaltens von Rotarmisten, warnt immer wieder vor übereilten Schritten zu neuen gesellschaftlichen Verhältnissen und kritisiert die überzogene Vernichtung des privaten Unternehmertums, seiner positiven, wirtschaftsorganisatorischen Kraft. Sein Hauptaugenmerk gilt dem Töten – nicht nur unschuldiger Menschen, sogar Minderjähriger, durch ungesetzliche Erschießungen, sondern auch der Wahrheit durch die Lüge. „Der Ihnen bekannte englische Historiker Carlyle schrieb“, gibt er Lunatscharski zu bedenken, „dass die Regierungen zumeist an der Lüge scheitern.“ Korolenko schildert die zaristische Lüge vom faulen und trunksüchtigen russischen Bauern, mit der die Wahrheit verdeckt wurde, dass nach der zaristischen Bauernreform das Land nicht reicher, sondern ärmer wurde und der Hunger zunahm, weil durch die Reform eine tödliche Stagnation eintrat – infolge eines üblen Systems der Bodennutzung. Es habe keine Aussicht auf eine gesicherte Verbesserung der bäuerlichen Lebensbedingungen geboten. Diese Lüge habe die Politik des Zarismus in seinen letzten Jahrzehnten bestimmt und das ganze System ins Verderben gestürzt.
Und Korolenko fragt den Volkskommissar: „Ist in Eurem System alles Wahrheit? Sehen wir da nicht auch Spuren von ebensolcher Lüge in dem, was Ihr dem Volk bereits eingetrichtert habt?“ Noch vor gar nicht langer Zeit hätten die Bolschewiki gegen die Narodniki polemisiert und argumentiert, dass Russland notwendigerweise und der Nützlichkeit wegen das Stadium des Kapitalismus durchlaufen müsse. Um taktischer Erwägungen willen habe man aber nach der Revolution den Volkshass gegen den Kapitalismus geschürt und die russischen Massen gegen das russische Kapital angefeuert, so wie man einen Sturmtrupp anfeuert, der eine Festung nehmen soll. „Die Festung habt Ihr genommen“, schreibt Korolenko nach Moskau, „und sie dem Verfall und der Plünderung preisgegeben. Dabei vergaßt Ihr nur, dass diese Festung Volksgut ist, hervorgebracht durch einen ‚segensreichen Prozess‘ […] Ihr habt dem Volk eingetrichtert, alles dies sei zusammengeraubt und müsse daher seinerseits geraubt werden.“ Dabei hatte der Briefschreiber nicht nur die materiellen Werte im Blick, sondern auch jene neue soziale Struktur, von der sie, die Marxisten, ausgingen, als sie selbst das Positive des „kapitalistischen Stadiums“ hervorhoben.
„Wo ist der Ausweg?“, fragt Korolenko schließlich, um seinerseits zu antworten. Seine Vision dabei war nicht der damals propagierte Internationalismus, sondern der Zusammenschluss von Vaterländern. Dabei sei das Volk Russlands 1920 noch weit davon entfernt gewesen, sich an die Spitze der besten Bestrebungen der Menschheit zu stellen. Es müsste beispielsweise noch lernen, mit dem Mechanismus der Abstimmung umzugehen, und nicht andere belehren. Die Führer der Bolschewiki forderte er auf, sich selbst ehrlich und verantwortungsbewusst ihren „Riesenirrtum“ einzugestehen, das eigene Selbstbewusstsein zu unterdrücken und einen neuen, den Weg einzuschlagen – jenen, den sie selbst Kompromißlertum nannten. Sie sollten auf den verhängnisvollen Weg der Gewalt verzichten.
Interessant zu wissen: Kein anderer als Lenin persönlich hatte vor Beginn dieser Korrespondenz Lunatscharski bitten lassen, Verbindung mit Korolenko aufzunehmen. Und als später, 1922, ein Redakteur der Prawda das Politbüromitglied Lew Kamenew über Lenins Gesundheitszustand interviewte und fragte, wofür dieser sich nach seinem Schlaganfall auf dem Wege Genesung interessiere, soll der geantwortet haben: „[…] für die Briefe von Korolenko an Lunatscharski, die eben erschienen sind.“

Helmut Hauck (Herausgeber): Späte Begegnung, Eigenverlag 2013, ISBN 978-3-00-038520-9, 80 Seiten, 8,00 Euro; zu bestellen per Telefon (03999 / 370086) oder E-Mail (ulrikemaassdorf@alice.de).