17. Jahrgang | Nummer 3 | 3. Februar 2014

Ukraine: pragmatische Lösung oder Zeitreise in die Vergangenheit?

von Kai Ehlers

Die Ereignisse in der Ukraine treiben einer Eskalation entgegen. Eine friedliche Lösung des Konfliktes zwischen der Majdan-Opposition und Präsident Viktor Janukowytsch scheint kaum noch möglich, nachdem nicht nur das überraschende Angebot des Präsidenten, zwei der drei führenden Vertreter der Opposition, Arseni Jazenjuk und Vitali Klitschko in die Regierungsverantwortung einzubinden, von den beiden in Übereinstimmung mit dem dritten in der Oppositionstroika, dem nationalistische Rechtsaußen Oleg Tiagnibok, als „vergiftetes Angebot“ (Klitschko) abgelehnt, sondern auch der Rücktritt des Ministerpräsidenten Mykola Asarow, die Rücknahme der Demonstrationsgesetze und die Bereitschaft der Regierung zu einer Amnestie für die kürzlich Verhafteten als unzureichend zurückgewiesen wurden – wegen der daran geknüpften Bedingung , dass die Barrikaden geräumt werden müssten. Der Kampf gehe weiter, ließen die drei gemeinsam verlauten. Das Ziel, in dem sie sich mit den Protestlern des Majdan einig sind, lautet: Rücktritt des Präsidenten und vorgezogene Neuwahlen noch in diesem Jahr sowie eine Rückkehr zur Verfassung von 2004, um die Macht des Präsidenten zu beschneiden.
Diese Forderungen stehen auf der nach dem 28. Januar verlängerten Versammlung des ukrainischen Parlaments noch zur Beratung an. Aber gibt es in der Rada wirklich noch etwas zu beraten?
Die Majdan-Aktivisten sind in zunehmendem Maße bereit, bis zum Äußersten durchzuhalten. Das lassen nicht nur die Oppositionsführer Jazenjuk und Klitschko und vor allem Tiagnibok verlauten, sondern auch die Aktivisten und Aktivistinnen auf dem Majdan selbst. Für sie gibt es unter den jetzt entstandenen Verhältnissen ebenfalls nur noch eins – voran! Sie lassen mit zunehmend militanten Besetzungen von Verwaltungs- und Regierungsgebäuden in Kiew und in anderen Städten der westlichen Ukraine erkennen, dass sie bereit sind, bis an die Grenze des Bürgerkrieges zu gehen – und möglicherweise darüber hinaus.
Für die Staatsmacht unter Janukowytsch gibt es damit keine Möglichkeit mehr, den Konflikt weiter „auszusitzen“, wie das trotz gelegentlicher Polizeiübergriffe und trotz der zu beklagenden Todesopfer seit zwei Monaten zu beobachten war. Und es wird nicht möglich sein, die Radikalen unter den Protestlern sich „austoben“ zu lassen in der Hoffnung, dass sie sich in den Augen der Bevölkerung diskreditieren könnten, um sie dann vielleicht durch verschärfte Gesetze abräumen zu lassen. Janukowytsch käme bei Fortsetzung dieses Kurses in die Gefahr, die ihm zur Verfügung stehenden „Sicherheitskräfte“ zu verheizen und seine Parteigänger gegen sich aufzubringen. Wo hat man im Übrigen in den letzten Jahren gesehen, dass derart radikale, erklärtermaßen auf Umsturz zielende Proteste, einschließlich direkter Angriffe gegen die Polizei, über einen so langen Zeitraum von der Staatsmacht geduldet werden, wie das jetzt in Kiew geschehen ist? In unseren westlichen „wehrhaften Demokratien“ jedenfalls nicht! Im Gegenteil, die Gesetze, die zur Unterbindung der Proteste von der Rada im Schnellverfahren vor einer Woche beschlossen wurden, sind westlicher, insonderheit deutscher Standard: Anmeldepflicht, Vermummungsverbot, Bannmeilengesetz und anderes mehr. Wenn die deutsche Kanzlerin Angela Merkel sowie der Außenminister und weitere Politiker gegen die Einführung dieser Gesetze protestieren, kann man ihnen nur zustimmen. Solche Proteste wünschte man sich allerdings für hiesige Verhältnisse auch.
Die einzig denkbare politische Lösung in der so eskalierten Situation dürfte die sofortige Anberaumung einer Neuwahl des ukrainischen Staatspräsidenten in einem überschaubaren und internationaler Kontrolle zugänglichen Rahmen von ein oder zwei Monaten sein, ob es Janukowytsch persönlich gefällt oder nicht, ob die Oppositionäre es ernst meinen oder nicht. Sie müsste an eine Neutralitätsverpflichtung aller Akteure während der Vorbereitungsphase der Wahlen gebunden sein, einschließlich einer Abrüstung auf beiden Seiten. Ein solches Vorgehen – würde es von Janukowytsch zugestanden und mit der Opposition öffentlich vereinbart – könnte auf der Stelle für klares Wetter sorgen, das heißt, es könnte die sich zunehmend militarisierende Austragung der Konflikte in eine politische Auseinandersetzung um die Wahlprogramme und Ziele der Kandidaten überführen. Janukowytsch nicht anders als die drei gegenwärtigen Leitfiguren der Opposition, gegebenenfalls auch weitere Kandidaten, wären gezwungen, ihre politischen Ziele in einem offenen Wahlkampf zu vertreten und sachlich zu konkretisieren, das hieße, über ein pro oder contra EU, Russland, Janukowytsch und Nation hinaus vor allem für die wirtschaftlichen und sozialen Probleme der Bevölkerung Lösungswege vorzuschlagen. Daran könnte sich zeigen, welche Positionen die politischen Kräfte des Landes tatsächlich vertreten.
Vermutlich hätte Janukowytsch angesichts der Heterogenität der Opposition – Oligarchenpartei Julia Timoschenkos, Europapartei Klitschkos, Nationalisten Tiagniboks – von einer solchen Lösung wenig zu fürchten. Sollte er dennoch davor zurückscheuen, bliebe als Alternative allein ein „Befreiungsschlag“ à la Boris Jelzin, der – wie man sich erinnern wird – 1993 die Kritiker der von ihm betriebenen beschleunigten Kapitalisierung des Landes mit Panzern aus dem Parlament schießen ließ. Im Unterschied zu Jelzin 1993 könnte Janukowytsch sich allerdings für eine vergleichbare Aktion des westlichen Beifalles nicht sicher sein; im Gegenteil, er müsste sich auf Sanktionen von dieser Seite gefasst machen. Entsprechende Drohungen wurden von Seiten der USA und der EU ja bereits aus geringerem Anlass laut.
Putin, um sich nicht weiter für die Konflikte in der Ukraine verantwortlich machen lassen zu müssen, könnte ein gewaltsames Vorgehen von Janukowytsch ebenfalls nicht gefallen. Seine beim EU-Russland-Treffen vor ein paar Tagen vorgetragenen öffentlichen Versicherungen, Russland werde den Fünfzehn-Milliarden-Kredit auch einer neu gebildeten ukrainischen Regierung auszahlen, sobald Klarheit über deren Zusammensetzung bestehe, sowie seine Erklärung , Russland werde sich nicht wie die EU in die inneren Angelegenheiten der Ukraine einmischen, sprechen eine klare Sprache. Man darf daher sehr gespannt sein, ob Janukowytsch den Mut zur Zulassung von Neuwahlen findet oder sich auf die Zeitreise zurück zu Jelzin begibt.

Redaktionsschluss dieses Beitrages war der 29. Januar 2014.