17. Jahrgang | Nummer 2 | 20. Januar 2014

Querbeet (XXXVI)

von Reinhard Wengierek

Meine Fundstücke im Kunstgestrüpp: Diesmal ein spielwütiges Geburtstagskind, einen verärgerten Wagner, bayerischen Judas und einen Hipster-Hamlet

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Papa nannte sie höhnisch „mein Ersatzreifen“, und die älteren Geschwister waren auch nicht immer nett. Überhaupt war es fürs Pummelchen einer Berliner Schauspielersippe nicht ganz einfach, sich in ihrem Familientheater zu behaupten. Doch früh übt sich. Dennoch sagte die Schauspielschule erst mal „nein“. Und Christine Schorn begann, im Ostberliner HO-Warenhaus am Alexanderplatz Kühlschränke zu verkaufen. „Lief prima, ich konnte die Leute gut bequatschen.“ Danach, mit gerade 17, da klappte es mit der Schauspielschule. Und drei Jahre später, mit druckfrischem Abschlusszeugnis, da rief auch schon – sensationell für eine Anfängerin – die DDR-Spitzenliga: Regisseur Friedo Solter von Berlins Deutschem Theater holte das zwanzigjährige Blondchen, das es doch ziemlich hinter den Ohren hatte, für ein sowjetisches Jugendstück über erste Liebesromantik und enthusiastischen Lebensaufbruch. Frech wurde gepfiffen auf Anpassung und Duckmäusertum, was bombig einschlug und ein Schuss war gegen DDR-Obrigkeitsstaaterei.
Friedo Solter mit leuchtenden Augen im Rückblick auf seinen damals frisch geborenen Star: „Die Tine war das pralle, junge Mädchen. Ein wirklich großes Talent mit einem ganz liebevollen Blick auf Menschen. Sie hat eine aggressive, aber auch lyrisch schwingende Sinnlichkeit, wie die Anna Magnani…“ – Hat sie bis heute. Und am ersten Februar wird Christine Schorn siebzig.
Was für eine Karriere! Immer an der Spitze an immer demselben Spitzentheater und immer mit dem Druck, Spitzenleistungen zu liefern; selbst in flauen Inszenierungen, sie war stets der funkelnde Lichtblick. – Das alles wollte durchgestanden sein. Allein in den letzten zwei Jahrzehnten spielte Christine Schorn am DT mehr als vierzig Rollen unter namhaftesten Regisseuren; dazu zahllose Filme. Etwa in  „Frei nach Plan“ die Rolle einer widerspenstigen Mama im Clinch mit drei renitenten Töchtern, wankend zwischen bissigem Sarkasmus und verbissener Selbstbehauptung. Und in bittere Lebensverletzungen untergemischt eine süße späte Lebensgier. Das machte Lust auf mehr. „Mehr solche Rollen als alerte Alte am Rande des Schlaganfalls, als nervös Getriebene mit unverschämt lustvoller, womöglich viel krimineller Energie“.
Schorns spröder, zugleich betörend damenhafter Charme (keine kann wie sie ladylike auf die Kacke hauen), die so fesselnde Aura wächst aus ihrer Eigenart: einem unerhört spitzen Ton, Lakonie, lax weggesteckter Schmerzlichkeit sowie selbstverständlicher Souveränität. Und halt ihrem Komödiantentum. „Letztlich glaube ich, dass ich komisch wirke, weil ich tragisch bin.“ Tja, man muss sie einfach lieben.

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Das Wagner-Jahr 2013 hat sich zu Ende geringt, ringelt aber noch hinüber in 2014 mit einem neuen „Ring“, zu dem sich die Geburtsstadt des XXXL-Opernkomponisten endlich mal wieder durchrang, begonnen noch im vergangen Jahr. Jetzt also „Die Walküre“ im wohl kostbar sanierten, schönsten Opernhaus der Nachkriegszeit. Was aber nur schwach darüber hinweg tröstet, dass Rosamunde Gilmores Inszenierungs- und Ulf Schirmers Dirigierkünste keinen Beitrag dafür liefern, dass die Messemetropole nun doch noch, wie lang ersehnt, wirklich zur Wagner-Metropole wird. Und das ausgerechnet am selben Ort, wo in den 1970er Jahren Joachim Herz eine echt metropolitane, Epoche machende Inszenierung vom „Ring des Nibelungen“ herausbrachte. Deren geradezu revolutionäre Innovation – das Mythengewebe geerdet durch Versetzung in die frühkapitalistische Lebenswelt des Komponisten –, die prägte fortan die weltweite „Ring“-Rezeption, was freilich seinerzeit kaum wahrgenommen und erst sehr viel später entsprechend gewürdigt wurde.
Die „Vorarbeit“ vor Ort war also enorm, doch Innovation kommt diesmal nicht vor. Dafür die immerhin interessante Ankündigung, das Geschehen mit „mythischem Bodensatz“ anzureichern. Dazu engagierte die vom Choreografieren abgewanderte englische Regisseurin eine Truppe von Tänzern, die fortan, o Schreck!, bloß albern durch die Szenen geistert. Dabei hat sich längst nirgendwo als zielführend herausgestellt, wenn „Ring“-Regisseure (wie zuletzt an der Berliner Staatsoper) pantomimisch-artistische Leibesübungen bemühen fürs transzendente Aufpeppen.
Doch kommt es noch schlimmer: Frau Rosamunde hat nicht nur keine schlüssige Konzeption, sondern obendrein keinerlei Gespür für Figurenbeziehungen und Personenregie. So stehen denn die eher durchschnittlichen Sänger ordentlich steif in der Gegend. Selbst der ekstatische Hormonausbruch des Geschwisterpaares Siegmund und Sieglinde ist so erregend wie eine Konversation zwischen zwei ältlichen Bürokräften. Und den spannungsgeladenen Soundtrack dieses Thrillers der Leidenschaften betreut der Intendant und Generalmusikdirektor Ulf Schirmer mit immerzu bedeutsam gerecktem Zeigefinger: entweder krachend grob oder zerdehnt langsam. Schnöde, obendrein sängerfeindliche Untugenden seit Urzeiten, die schon Wagner auf die Palme brachten.
Was bleibt mir da als Rat an Wagnerianer? Fahrt nach Berlin! Dort spielt man schon seit drei Jahrzehnten in der Deutschen Oper Götz Friedrichs genialen, mithin konkurrenzlos immergrünen „Ring“ im immer ausverkauften Haus.

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Mit dem Bauch zur Wand hängt ein baumlanger Kraftkerl wie der gekreuzigte Jesus splitterfasernackt am Eisernen Vorhang der Münchner Kammerspiele. Es ist der als Judas entkleidete Schauspieler Steven Scharf, der in dieser körperlich so extrem misslichen Lage eine Rede hält ans Volk (hier: Publikum), in der er, eben Judas, seine seit 2000 Jahren so extrem missliche Rolle als Verräter kommentiert. Der Tenor: Er, nicht Jesus, habe die Sünden der Menschheit auf sich genommen, indem er jenen verraten habe, aber eben nur, damit sich der große Heilsplan des Messias verwirkliche. Er, Judas, habe die Schande auf sich genommen, um Christus zum Opfertod, zur Auferstehung und mithin zur Göttlichkeit, zur Ikone des christlichen Glaubens zu verhelfen. So etwa geht der effektheischende, ziemlich angestrengte und von Fragwürdigkeiten nicht freie „Judas“-Monolog der niederländischen Autorin Lot Vekemans. Interessant aber ist, was der stimmgewaltige Steven Scharf daraus macht (unter der Regie von Johan Simons): Nämlich die starke Studie einer zwischen Verzweiflung und Anmaßung taumelnden Selbstrechtfertigung; die glaubhafte Zeichnung des Porträts eines von Zweifel und Glaube Zerrissenen, eines trotzig Unglücklichen, eines modernen Menschen.
Für diese bemerkenswerte Leistung erhält Steven Scharf den Gertrud-Eysoldt-Ring 2014 der Akademie der Darstellenden Künste, in dem das hübsche Preisgeld von immerhin 10.000 Euro steckt.

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Nach vielen Jahren mehr oder weniger hoch erfreulicher Film- und Bühnenarbeit sowie einem wirklich tollen literarischen Hit, dem Memoiren-Buch „Buh!“ (siehe Das Blättchen 25/2013), warf Regisseur Leander Haußmann jetzt im Berliner Ensemble einen dramatischen Hit auf die Bretter: „Hamlet“.
Der enorm elastische Schauspieler Christopher Nel spielt die zwielichtige Heldenfigur als einen Getriebenen – vom politischen Gewaltbetrieb seiner geilen und machtpolitischen Eltern sowie von irrationalen Einflüsterungen (Räche den Mord am lieben Papa!). Nel als ein so genervter wie verwirrter, ein so wild verwegener wie super sexy Hamlet-Hipster: Wie soll man sein oder soll man nicht sein, was sollte man tun, was lassen und wie bleibt man cool in einer total versauten Welt, das sind so Fragen…
Ja doch, in diesem Haußmann-„Hamlet“ ist all das drin, was auch bei Shakespeare drin ist: Schauermär, Lovestory, Politkrimi, philosophisches Denkstück, Traumspiel, kunstästhetischer Diskurs, Jugendrevolte, Horror, Fantasy, Amoklauf, Ödipus-Kiste – also eigentlich (fast) alles. Und die Regie gibt als Schlagobers noch einen Schuss Grand Guignol aufs Drama: Die Gedärme fliegen nur so über die von Johannes Schütz als neblig zwielichtigen Irrgarten dekorierte Drehbühne.
„The dead is not the end“ flöten am Ende die vielen Toten pop-romantisch. Stimmt. Zumindest im Shakespearschen Jenseits, das ja immer auch ein strammes Diesseits ist; was Leander sehr wohl kapiert hat. Bravo für drei unterhaltsame, zumeist sinnreiche, zuweilen mit länglichen Momenten durchsetzte Stunden. Also nicht länger rumgezickt: Übergebt unserem verrückten und dennoch durchtrieben kalkulierenden Phantasten Haußmann (54) nach Claus Peymann (76) die Direktion des Berliner Ensembles!