von Thomas Behlert
Als wichtige Ideengeber des so genannten Krautrocks entpuppten sich ab 1974 Kraftwerk. Bereits einige Jahre zuvor veröffentlichte das Quintett Organisation die LP „Tonefloat“. Das Album, das äußerlich noch ganz nach „Heavy“ aussah, hatte mit dem zeitgenössischen Rock nicht mehr viel gemein. Geleitet von den Kunststudenten Ralf Hütter und Florian Schneider-Elsleben entstand Musik abseits aller gängigen „Trötmelodien“, was aber das Label RCA unter der Rubrik „Interessante geschäftliche Fehlentscheidungen“ ablegte. Schnell war sich die Band einig: Noch mal ganz von vorn. Aus Organisation wurde Kraftwerk, mit gleichnamiger erster LP im Gepäck. Ralf und Florian waren bei der Aufnahme des ersten Stückes „Ruck Zuck“ wohl nicht unter uns. Sie tingelten durch den Weltraum um ein Epos aus der Galaxie zu entführen, gemischt mit verzerrten Klassikauszügen, bloß ohne Melodie.
Danach verlassen Kraftwerk das Feld der zügellosen Kraut-Melodien, um sich ganz dem Zauber der Elektronik hinzugeben. In Düsseldorf wird das Studio „Kling Klang“ eingerichtet, die Alben „Kraftwerk 2“ und „Ralf & Florian“ erschienen. Die „Antistars der deutschen Rockszene“ (Neue Ruhr Zeitung) verzichteten hier auf jegliche Unterstützung, sie scheuten die Medien und produzierten abgeschirmt vor der Öffentlichkeit. Man probierte lieber neue Instrumente aus, erforschte die Technik und tüftelte an Melodien der Unendlichkeit. Neben Wolfgang Flür an den Schlaginstrumenten kam 1974 der Althippie und Violinespieler Klaus Röder hinzu, den keiner von der Band akzeptierte. Er war zwar liebenswürdig und sehr musikalisch, aber sein Äußeres wollte überhaupt nicht zum Gesamtkonzept passen. Auf sein Instrument, das wie eine Geige funktionierte und durch elektronische Verstärkung dem Sound eine ungewöhnliche Richtung geben sollte, hatte es Schneider abgesehen. Schon für das Album „Autobahn“ geigte der in einer Bauernkomune lebende Röder. Allerdings fand dies bei dem späteren Mix keine Verwendung.
Mit „Autobahn“ sollte sich Vieles ändern: Das Album stieg in Großbritannien (Platz 5), in den USA (Platz 10) und in Deutschland (Platz 7) in die Charts ein; die Haare wurden endgültig züchtig deutsch geschnitten, Maßanzüge gefertigt und eine große US-Tournee vorbereitet. Um aber auch auf der Bühne ganz nach Kraftwerk zu klingen, wurde Röder durch Klaus Bartos ersetzt, der wie der Teufel Schlagzeug, Klavier und Vibraphon spielen konnte.
Während der USA-Tour war das Publikum von der gigantischen Show begeistert, gleichzeitig von der Bewegungslosigkeit der Band geschockt. Bereits 1976 schob das Quartett die fünfte Platte „Radioaktivität“ nach. Fast ohne Pause wurde getourt und im Mai 1977 in Paris sogar ein weiteres Album aufgenommen: „Trans Europa Express“, ein Gesamtkunstwerk der Musik. Neben ungewöhnlich gefühlvollen Songs räumte das experimentelle Lied „Metal auf Metal“ in manch Gehirnkasten mächtig auf, denn metallische Hammerschläge unterbrechen fröhlich die Melodiebögen. Auf diese Idee kam Wolfgang Flür, der in seiner Werkstatt oft Metallenes aus großen Blechen gefertigt hatte. Auf die Bühne kam das Lied, der wohl erste „Industry-Song“, nur in Form eines Filmes, denn Eisenhämmer hätten ja Bewegung bedeutet.
Nur ein Jahr später der absolute Höhepunkt, die „Mensch-Maschine“ mit der Single „Die Roboter“. Inspiriert von verschiedenen Kritiken, in denen die Musik von Kraftwerk als „gefühllos“, „puppenhaft“ und „nur für Roboter gemacht“ beschrieben wurde, brachten Schneider & Co. endlich Roboter auf der Bühne. Der alte Puppenhersteller Obermayer nahm mehrere Messungen an den Musikern vor, formte einen Tonhaufen, bis schließlich Gesichter entstanden. Diese „Roboter“ absolvierten dann Pressekonferenzen in New York und Paris, bei denen jeweils zwei Musiker unerkannt im Publikum saßen. Kleine Tricks fanden hierbei Verwendung: Ein elektronisches Zählwerk auf der Stirn und bewegliche Münder (Überblendtechnik), die Teile aus dem Text sprachen: „Ja twoj sluga, ja twoj rabotnik“ – ich bin dein Diener, ich bin dein Arbeiter.
Zum Album „Mensch-Maschine“ sollte es keine Tournee geben, da es mit dem Aufbau der Technik immer schwieriger wurde: Aufbauen, abbauen und wieder aufbauen ließen Fehler und Ausfälle zu, Roadies und Techniker vor Ort verzweifelten. So arbeiteten die Herren Kraftwerker lieber an „Computerwelt“ und an einer neuen Show mit Container. Damit weder die Musiker noch die Techniker auf empfindliche Kabel traten, baute man einen flachen Kabelkasten, in dem auch Pedale integriert waren. Irgendwann kam Florian noch auf die blendende Idee, Taschenrechner einzusetzen und lieferte die Zeilen dazu: „Ich bin ein Musikant mit Taschenrechner in der Hand.“
Zur Single „Das Model“ gibt es eine Vorgeschichte: Hütter traf in einer Disco auf das Model Christa Becker, von der er wie besessen war. Er starrte sie oft heimlich an und kam auf die Zeilen: „Sie ist ein Model, und sie sieht gut aus. Ich nähm sie gerne zu mir nach Haus.“ Und das „Sekt? Korrrrrekt!“ stammt von einem dort angestellten Kellnerunikum. Nachdem die Welt vom neuen Kraftwerk-Zeichen erfuhr, konnte man auf Tour gehen, die nach Rom, Bologna, Budapest und Kattowitz, Melbourne und Bombai führte. Polen war keine gute Konzertgegend: Viele Menschen streikten und keiner arbeitete. Überall lag Dreck und die Konzertgebäude bröckelten an allen Ecken. Im Land des Lächelns erlebten sie ihren Live-Höhepunkt: Alles war dort perfekt organisiert, die Konzerte ausverkauft, die Zuschauer bei bester Laune… Florian Schneider entpuppte sich während dieser langen Tournee als ein unbekanntes Wesen. Er zog sich von Crew und Band zurück, grüßte oft gar nicht und setzte sich weit weg von den Übrigen. Er hatte wohl den Heimwehkoller. Nach dieser Tournee kapierten auch viele in Deutschland, dass Kraftwerk eine seriöse Musik zelebrieren, ganz im Sinne der Minimalisten und Experimentalisten Terry Riley, Stockhausen und Moondog.
Florian und Ralf fuhren ab 1982 nur noch Rennrad und schmökerten in Fahrradkatalogen. Bartos und Flür fühlten sich nicht mehr wohl, sie wollten Neues schaffen und sich weiter entwickeln. Erste Soloplatten entstanden.
1983 komponierte Florian dann einen Song, der sich mit der Tour de France beschäftigte. Er verwendete hier zum ersten Mal einen Sampler, den „Emulator“, der als Anfang der späteren Techno-Dance- und Remixmusik gelten muss. Nach einer längeren Entspannungsphase entsannen sich die Musiker und begannen wieder neue Songs aufzunehmen. Das Album sollte ursprünglich „Technicolor“ heißen. Doch eine Firma gleichen Namens hatte darauf Titelschutz angemeldet und beschwerte sich massiv. Nach langen Überlegungen einigte man sich auf „Technopop“, um dann schließlich die LP „Electro Cafè“ zu veröffentlichen. Während der Aufnahmen kam es ständig zu neuen Überarbeitungen, nie war Ralf mit einer Variante zufrieden. Bis er plötzlich während eines Radausfluges mit einem anderen Sportler kollidierte und mit Schädelbruch in ein Krankenhaus eingeliefert wurde. Daraus entstanden dann auch die Gerüchte, dass Kraftwerk ein Album produziert hatten, das nie zur Veröffentlichung kam. Doch es war nur „Electric Cafè“ nach vielen Überarbeitungen. Das besondere an diesem Werk, das eher als kalter Kaffee in die Geschichte einging, war, dass Karl Bartos den Titel „Telefoncall“ eingesungen hatte. Dann ging nichts mehr: Keine Ideen, keine Tournee. Flür und Bartos gingen endgültig eigene Wege. Ralf und Florian antworteten nicht auf Briefe und ließen jeden Kontakt ruhen. Mit der Hitkopplung „The Mix“ hatte das ehemals fest gefügte Kraftwerk-Team nicht mehr viel zu tun. Mit verschiedenen Gastmusikern gab der Kraftwerk-Rest einige wenige Konzerte und überraschte im Sommer 1999 die Fangemeinde mit einem Werbespot für die Expo 2000 in Hannover (400.000 DM für 30 Sekunden!). Das Album „Tour de France“, 1999 nur von Schneider und Hütter aufgenommen, kommt ohne Höhepunkte aus, es floppte.
Nach 40 Jahren ist nun auch Florian Schneider ausgestiegen, um eigene Soloprojekte anzuschieben. Kraftwerk, die mittlerweile von Johnny Lydon bis zu den Red Hot Chili Peppers rezipiert werden, sind nun vom Musikjournalisten David Buckley genau analysiert worden. Für eine unautorisierte Biographie sprach er mit ehemaligen Mitgliedern und zahlreichen Weggefährten, wie Karl Bartos, Wolfgang Flür und Michael Rother. Genau wird analysiert, wie die Band arbeitete, was es mit dem Radfahren auf sich hat und wie bis heute der Einfluss auf amerikanischen Hip Hop und elektronische Musik im Allgemeinen ist. Möge der Meister und mittlerweile alleiniges Mitglied von Kraftwerk, Ralf Hütter, friedlich bleiben und nicht auch dieses Buch, wie bei der emotionsgeladenen Autobiographie von Wolfang Flür geschehen, verbieten.
David Buckley, Kraftwerk – Die unautorisierte Biographie, Metrolit Verlag, Berlin 2013, 400 Seiten, 24,99 Euro; Konzerttipp: 28.01. – Karl Bartos in Halle/Saale.
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