17. Jahrgang | Nummer 1 | 6. Januar 2014

Querbeet (XXXV)

von Reinhard Wengierek

Meine Fundstücke im Kunstgestrüpp: Diesmal Glückskekse, Kaff-Kunst, Balzac-Soap und Glockenklang.

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Er hält Leonard Bernsteins „West Side Story“ nicht nur für das beste und erfolgreichste Musical „aller Zeiten“, für Barrie Kosky ist es vielmehr schlicht „Musiktheater des 20. Jahrhunderts“ – in seiner Radikalität vergleichbar mit „Wozzeck“ von Alban Berg oder „Die Soldaten“ von Bernd Alois Zimmermann. Und prompt tritt er, der Hausherr der Komischen Oper, als Regisseur den Beweis an. Der überzeugt auf atemberaubende Art. Noch nie sah ich den durch geschäftige Tournee-Theater zur gängigen Hitparade mit flotten Tanzeinlagen ausgeleierten Bernstein-Hit derart frisch, viril und bei aller szenischen Kargheit geradezu monumental. Noch nie krachten derart brutal die verfeindeten Jugend-Gangs aneinander; noch nie war deren Tragik so packend gegenwärtig, ohne dabei krampfhaft plakative Aktualisierungen zu bemühen. Wahrlich: Ein Stück universales Musiktheater – über die so herrliche wie gefährliche Himmelsmacht Liebe, über Hass, über das Elend der Unterprivilegierten und deren verzweifelte Suche nach Identität, Heimat, Lebenssinn.
An diesem maßstabsetzenden Regie-Triumph sind gleichrangig beteiligt der Co-Regisseur und Choreograph Otto Pichler, der die vor Testosteron schier platzenden Massen (super Casting!) souverän steuert, sowie das rasende, unerbittlich stampfende und ballernde Hochleistungsriesenorchester unter Koen Schoots. Dazu eine zwischen poetischem Stimmungszauber und grellen Schockeffekten taumelnde Lichtregie sowie die in all ihren heißen oder eisigen Momenten überzeugenden Solisten. – Alles in allem die grandiose Bestätigung des Titels „Opernhaus des Jahres“, den die internationale Fachkritik der Komischen Oper erst kürzlich verlieh. Neu-Intendant Kosky, 1967 in Melbourne geboren, übertraf mit seinen phantasiereichen Innovationen alle in ihn gesetzten hohen Erwartungen – sein Haus strahlt im Glücksrausch! Zum Dank ans Publikum werden allabendlich Glückskekse verteilt.

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Dass unsere Theater nichts als „Kaff-Kunst“ böten; eine „verlorene Kunst in dem Sinn, wie man von einem Kaff am Rand der Welt sagt, es sei verloren“, das meint unser TV- und Groß-Philosoph Peter Sloterdijk flott und pauschal zwischen 639 Suhrkamp-Seiten in seinem Tagebuch „Zeilen und Tage (24,95 Euro). – Dass die Gesamtbesucherzahl aller Theater, Orchester, Festspiele von 31,5 auf 32 Millionen (Saison 2010/2011) gestiegen ist; dass die öffentlichen Zuschüsse (2,3 Milliarden Euro) und die Eigeneinnahmen (497 Millionen Euro) ebenfalls leicht anstiegen – bleibt alles Wurscht. Mehr Leute und mehr Knete im Dienst der Kaff-Kunst: So sieht’s aus!

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Honoré de Balzac hat in zwanzig Jahren mehr als achtzig Romane geschrieben, eine ziemliche Überforderung; mit 51 war er tot. Was dagegen sind fünf Stunden mit Frank Castorfs Adaption des Balzac-Romans „La Cousine Bette“ in der Volksbühne Berlin…
Dessen „Bette“ von 1846 ist eine Riesen-Soap aus dem aristokratisch-bürgerlichen Familienleben in chaotischen Zeitläuften, und Castorfs vor Fantasie strotzende Übersetzung erzählt sie nicht nach, sondern umspielt weit schwingend Balzacs Grundthema: nämlich die selbstzerstörerische Gier auf Geld und Sex.
„Wenig arbeiten, viel verbrauchen und noch viel mehr Geschlechtsverkehr haben“, so beschrieb es der französische Anarchist Proudhon, dem als nüchternem Materialisten längst klar war, dass im auftrumpfenden Kapitalismus auch Liebe zur Ware wird. Und Moral was für Schöngeister ist, nichts weiter als Deko. Dahinter tobt der brutale Kampf um dickste Kontostände, reichste Kerle, tollste Weiber. – So etwa steht’s in Balzacs fulminanter Familienstory, in der es finanziell und sexuell kreuz und quer geht zwischen geilen Ehemännern, Nutten, einer Gattin, Tochter, Bedienten. Eine hübsche Raserei jeder gegen jeden und massenhaft Szenen voll hasserfüllter Kräche, hysterischer Ausbrüche, lüsterner Bitten, schamloser Lügen, dazu Rudelbumsen – von der Regie hingebungsvoll ausgemalt. In die slapstickhaft-kabarettistische Langzeit-Klamotte eingewoben sind jede Menge Stichworte aus heutigen Diskursen wie Klassenkampf, Gentrifizierung, Hartz IV, Festung Europa, Kolonialismus, Neger, Revolution, Renegat, Nazikacke, Islamismus, arabischer und sonstiger Antisemitismus. Alles nur sehr indirekt bei Balzac, aber eben irgendwie auch zu ihm passend, zum letztlich triumphierend Abgründigen seines sich selbst zerfleischenden Menschen-, seines elenden Menschheitspanoramas. Eigentlich ist Castorfs virtuos aufgedrehte Berserkerei mit Balzac eine ins Groteske und Aberwitzige getriebene, freilich bloß streckenweise wirklich zu begreifende Freak-Show. Letztlich aber ist die schier endlos exzessive Castorf-Nacht eine um sich selbst kreiselnde Seance über die vergebliche Jagd nach Glückseligkeit.

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Ja leider, die deutsche Hauptstadt und immer auch noch: Theaterhauptstadt hat kein Theatermuseum, sondern nur die kleine feine so genannte Theaterabteilung im lokalen Märkischen Museum. Doch die „Initiative Theatermuseum Berlin e.V.“ mit dem so unverdrossen rührigen Klaus Wichmann an der Spitze kämpft seit langem um die Einrichtung eines „richtigen“ Theatermuseums. Die kontinuierlich anwachsenden, teils hoch bedeutsamen Bestände lagern verstreut und harren dauerhaft öffentlicher Präsentation an zentraler Stelle. Denn immerhin: Berliner Theatergeschichte ist zugleich deutsche Theatergeschichte.
Da lässt nun jetzt der verdienstvolle Herr Wichmann eine Kostprobe gucken. Ausgerechnet und doch ziemlich absichtsvoll in des Volkes Mitte. In einer fein herausgeputzten alten Marheineke-Markthalle inmitten des so szenischen Stadtbezirks Kreuzberg. Sie zeigt kurz gefasst die extrem wechselvolle, mit nationaler Geschichte eng verwobene Historie der Staatsoper Unter den Linden samt ihrer vielen wagehalsigen Umbauten und faszinierenden Umbauplanungen – vom friderizianischen Anfang über die Überformungen in der Weimarer Republik sowie der Nazi-Zeit bis hin zur Rekonstruktion heute. Dabei wird klar: Der Baugrund im Berlin-Warschauer Urstromtal (Sumpf und Sand) war schon immer das Grundärgernis. Die gegenwärtige Rekonstruktion des total maroden Knobelsdorf-Baus (das Star-Institut Daniel Barenboims fand inzwischen Unterschlupf im nach 1990 abgewickelten Schiller-Theater), also die Reko, wird dauern! Wie der Schönefelder Flughafen-Neubau „Willy Brandt“ ist die Wiedereröffnung immer wieder weit hinausgeschoben, sind die Kosten explodiert auf mehr als 300 Millionen Euro.

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Und nochmals Hauptstadt, Deutsches Theater, eine der neuerdings an diesem hohen Haus so raren Sternstunden: Ulrich Matthes liest Balladen von Friedrich Schiller. – Doch was heißt „lesen“. Matthes inszeniert und spielt lauter große Dramen voller Action und mit – auch das – moralisch erhobenem Zeigefinger. Matthes macht hinreißend das erregende Spektakel, aber auch mit heilig nüchternem Ernst das so anrührend jauchzende Idealische – eben den Schiller mit der hohen Stirn und den rotlodernden Locken. In den Versen rasen Menschenwahn und Menschheitsbeglückungs-Sehnsucht um die Wette. Man muss diesen Dichter kopfschüttelnd hingebungsvoll lieben. Schön, wie der Schauspieler zum Schlussbeifall die Handvoll Textblätter wedelnd hoch reißt zum Bühnenhimmel – feine Geste der Verehrung. Und prima, dass der Schauspieler jeweils zwischen die Gedichte persönliche Bemerkungen streut. Da wird nicht vom hohen Podium herab rezitiert; vielmehr ist es wie in privater Runde daheim beim Geschichtenerzählen. Eine kostbare gute Stunde. Und fortan wird die Erinnerung an Schillers Dichtung, an „Die Glocke“ zum Beispiel, im Bunde sein mit Matthes‘ samtig gurrender Stimme sowie deren vielsagenden Pausen. – „Das Auge sieht den Himmel offen […] / Die Liebe — muss — bleiben […]“ Ach, diese so bedenkliche Stille zwischen Liebe, Müssen, Bleiben…

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O! zarte Sehnsucht, süßes Hoffen,
Der ersten Liebe goldne Zeit,
Das Auge sieht den Himmel offen,
Es schwelgt das Herz in Seligkeit.
O! dass sie ewig grünen bliebe,
Die schöne Zeit der jungen Liebe!

Mein Gruß mit Schiller zum neuen Jahr.