von Alfred Askanius
Wenn die „Elektra“ des Sophokles angesagt ist wissen alle: Das bedeutet Theaterblut kanisterweise, irre Schreie mit höchster Tonfrequenz, Tränen, Wahnsinn und überhaupt ein geschocktes Publikum, weil man andauernd über die Tiefen der eigenen Abgründe nachdenken muss. Das Deutsche Theater Berlin hatte da in den letzten Jahren eine gewisse Bekanntheit erworben. Am 22. November aber: nichts da von alledem. Stefan Pucher hatte das Stück inszeniert, ehrlich gesagt: auf die Bühne gebracht. Pucher soll berühmt sein und hatte wohl nicht sehr viel Zeit, da er neben seinem aktuellen Berliner Versuch gleichzeitig in München, Hamburg, Wien und Zürich inszeniert. Das war auch zu sehen. Und Stefan Pucher hat sich erst gar nicht mit „philologisch korrekten“ Übersetzungen abgegeben, sondern gleich einen griffigen Text von Peter Krumme genommen. Da steht großspurig „Deutsch von…“ im Programmheft, aber das muss man wohl nicht so wörtlich nehmen. Die FAZ nannte Krumme einmal einen „großen Kompilator“ der sich „aus der Tradition“ genommen habe, „was er brauchte“. Für dieses Zusammenklauben griff Krumme übrigens einst den Preis der Frankfurter Autorenstiftung ab. Sophokles hätte das in Athen eine mehrjährige Verbannung eingebracht.
Was passiert da nun auf der Bühne? Katharina Marie Schubert (Elektra) beschimpft anfangs heftig und theatralisch die Mutter, die mit einem gewissen Aigisthos Bett und Thron teilt. Beide hatten Jahre zuvor den Papi der Elektra, einen Berufsmörder namens Agamemnon in der Badewanne getötet. Klytaimestra, die Mutter, machte das wohl aus Rache, weil der Gatte einstens ihre Tochter Iphigenie auf einem Altar der Artemis schlachtete. Andere gute Gründe kann man bei Christa Wolf („Kassandra“) nachlesen. Hat Pucher aber offenbar nicht gemacht. Würde Susanne Wolff (Klytaimestra) nicht versuchen, an sprachlicher Geschraubtheit die Elektra der Frau Schubert zu toppen, wären die Sympathien des Publikums auf ihrer Seite. Frau Schubert lispelt allerdings gelegentlich entzückend. Das macht das durchgeknallte Pathos der Berufsrächerin streckenweise erträglich. Irgendwann – mein Sitznachbar, ein alter Theatermann, hatte schon fünf Mal auf die Uhr geguckt – taucht endlich der verschollene Bruder Orestes aus seinem Exil auf, um die Rache zu vollziehen. Damit der aber nicht gleich von den Bodyguards des mörderischen Herrscherpaares erwischt wird, versteckt er sich erst einmal und schickt einen „Alten“ vor, die Lage zu erkunden und zur Beruhigung seiner Opfer den eigenen Tod bei einem Sportunfall (er hatte die Idee, beim Wagenrennen unter die Räder des eigenen Kampfwagens zu kommen) zu verkünden. „Der Alte“ (Michael Schweighöfer) macht das auch ganz brav: Schweighöfer rezitiert auf beeindruckende Weise eine der frühesten Sportreportagen der Weltgeschichte. Das war wie bei der Formel 1 – eigentlich das Beste an diesem Abend. Felix Goeser, der spielt den Orestes, darf dann auch noch ein paar bedeutende Worte sagen, wird von Schwesterchen erkannt, die von da an keine Rolle mehr spielt, sondern irgendwie verloren rumsteht – und geht dann die Mama massakrieren. In den antiken Originalen macht er das mit dem Tatwerkzeug, das den Agamemnon in den Hades beförderte. Aber es gibt kein Theaterblut bei Pucher. Statt dessen schmiert Söhnchen der Mama auf einem Video-Clip mit einer Quaste an einem Besenstiel irgendwelches Zeugs ins Gesicht und auf das Negligé und ruiniert deren Abbild. Danach muss das Weichei Aigisthos dran glauben. Das wird aber nur erzählt.
Das eigentlich Verblüffende ist der Chor. Stefan Pucher nahm den Begriff Chor wörtlich und stellte drei junge Sängerinnen auf die Bühne, die auf Englisch von Christopher Uhe softig komponierte Horrorsongs darboten. Sogar Elektra darf singen – aber nicht so nervend wie bei Richard Strauß, sondern irgendwie in den Wonnen der ersehnten Rache dahinschmelzend. Zum Schluss gibts im Bühnenhintergrund ein Gruppenfoto der vom Schicksal gezeichneten (alle irgendwie tot!) Atriden-Familie, also der Sippe des Agamemnon. Das war irgendwie nett und dauerte nur 90 Minuten.
Was ich nicht verstanden habe, das waren die Petticoats der Damen und Herren Griechen. Leider gab’s im Programmheft kein Interview mit dem Regisseur über diese zentrale Frage der Regiekonzeption. Wahrscheinlich hatte der keine Zeit für sowas. Der Flieger nach Wien oder Zürich wird gewartet haben…
Wieder am 20. und 31. Dezember sowie am 8. und 16. Januar 2014.
Schlagwörter: Alfred Askanius, Deutsches Theater, Sophokles, Stefan Pucher