von Renate Drommer
Am 5. November 1941 schreibt eine junge Frau aus dem KZ Ravensbrück an ihren eingekerkerten Mann in Rio de Janeiro:
„Mein geliebter Carlos!
[…] Wenn man beim Schwimmen zum Starten ins Wasser taucht, atmet man tief ein und denkt daran, wie viel Atem man braucht, um durchzuhalten. So ähnlich geht es mir hier.“ Die Frau spricht vom Überleben hinter Stacheldraht in deutscher Winterkälte.
„Stell dir vor, wir haben bereits Schnee, und ich denke mit Sehnsucht an eure brasilianische Sonne.“ Die Frau ist groß, hat leuchtend blaue Augen und dunkle Haare. Ihr Name ist Olga Benario. Sie wird Ende April 1942 mit 200 anderen jüdischen Frauen vom KZ Ravensbrück nach Bernburg transportiert und in einer Gaskammer der dortigen Heil- und Pflegestation umgebracht.
Wer nach den Ursachen ihrer Tragödie fragt, wo soll der beginnen? Bei Hitlers Machtergreifung 1933, bei den Nürnberger Rassegesetzen 1935? Oder beim Ersten Weltkrieg?
1928 befreit die Zwanzigjährige gemeinsam mit ein paar Jungkommunisten ihren Freund Otto Braun aus dem Untersuchungsgefängnis Berlin-Moabit. Die Flüchtigen werden steckbrieflich gesucht und entkommen in die Sowjetunion. Dort wird Olga Benario, die unerschrockene Heldin, vom 5. Weltkongress der Jugend-Internationale in dessen Zentralkomitee gewählt und anschließend mit Aufträgen nach Paris und London geschickt. In Borissoglebsk erhält die sportliche Frau eine halbmilitärische Ausbildung. Sie lernt schießen, reiten, fliegen.
Olgas Schicksal, wann und wo entscheidet es sich? Geschah es an jenem Tag im November des Jahres 1934 als Dmitri Manuilski, Sekretär der Exekutive der Kommunistischen Internationale, die deutsche Genossin zu sich bestellt? Er macht sie mit Luis Carlos Prestes bekannt. (Der lebt mit Mutter und vier Schwestern seit 1931 in Moskau). Der brasilianische Revolutionär wird die Liebe ihres Lebens. Das Kind, das sie von ihm erwartet, kommt im Berliner Frauengefängnis Barnimstraße zur Welt. Olga wird es vierzehn Monate lang in ihrer Zelle stillen. Tagtäglich sind Mutter und Kind auf engstem Raum beieinander. Olga badet das Baby, sie spricht und spielt mit ihm, beobachtet und beschreibt es zärtlich für den zu Einzelhaft verurteilten Vater in Rio de Janeiro:
„Karli, mein Lieber! Gerade liegt sie in ihrem Bettchen u. klopfen ihre Beinchen einen wahren Neger-Samba. Nehme ich sie auf den Arm, so turnt sie an mir herum wie ein Äffchen an der Stange. Was das bekannte Morgenbad angeht, so kann man hinterher in meiner Zelle Kahn fahren. Sie patscht mit ihren Händchen und Füßchen im Wasser u. je höher es spritzt, desto besser…Jeden Morgen vor dem Bade wird sie ganz ausgezogen u. auf eine Decke auf dem Tisch gelegt. Zuerst rennen wir. Ich nehme in jede Hand ein Beinchen u. die bewegen wir rasch hin und her. Dazu sagen wir, dass der Papa sehr schnell laufen kann u. dass wir da nicht zurückbleiben dürfen.“
Aber zurück zu Dmitri Manuilski nach Moskau. Er hat einen Auftrag für Prestes und Benario. Der „Ritter der Hoffnung“ soll nach Brasilien zurückkehren, um die Genossen bei der Vorbereitung eines zu erwarteten Volks-Aufstandes zu beraten und zu unterstützen. Olga wird ihm zur Tarnung als Ehefrau mitgegeben und als seine Leibwächterin engagiert. (Prestes ist einen Kopf kleiner als sie und von zierlicher Gestalt) Sie reisen mit gefälschten Papieren und unter falschem Namen. Der Offizier wird in seiner Heimat von der halbfaschistischen Regierung des Putschisten Vargas wegen Desertion gesucht. Luis Carlos spricht kein Wort deutsch, Olga nicht portugiesisch. Ein Himmelfahrtskommando? Das wird sich bald zeigen. Die Reise von Moskau nach Rio ist lang, sie dauert vier Monate, Zeit, um miteinander zu reden, (ihre gemeinsame Sprache ist französisch), und für eine ungewöhnliche Liebe.
Am 5. März 1936 werden Prestes und Benario in Rio de Janeiro verhaftet. (Der Aufstand kam zu früh und wurde blutig niedergeschlagen.) Da kennen sich die beiden genau ein Jahr, drei Monate und zweiundzwanzig Tage. Am 7. März überbringt Dmitri Manuilski der Mutter die Nachricht von der Verhaftung ihres Sohnes. Dona Leocadia Prestes und ihre Tochter Lygia sind sofort bereit, an der Kampagne zur Befreiung der Gefangenen mitzuarbeiten. Unterstützt von der Internationalen Roten Hilfe reisen die Frauen nach Madrid, Paris und London. Dona Leocadia war Schullehrerin in Porto Alegre. Jetzt spricht sie vor tausenden Menschen. Wo sie auftritt, erlebt sie die Kraft der internationalen Solidarität, die ihrem Sohn gilt. In Brasilien ist er seit dem langen Marsch seiner Kolonne ein Volksheld. Als solcher wird er auch in Europa verehrt. Wer aber ist Olga Benario? In der Moskauer Komintern -Zentrale hat man sie offenbar vergessen. Weder Dimitri Manuilski noch Georgi Dimitroff (der Vorsitzende der Komintern) verwenden eine Minute ihrer Zeit auf das Schicksal der deutschen Kommunistin. Zur Erinnerung: Dimitroff und seine bulgarischen Mitangeklagten im Reichstagsbrand-Prozess erhielten die sowjetische Staatsbürgerschaft als sie Hitlers Gefangene waren. Auf diplomatischem Weg und unter dem Druck der Weltöffentlichkeit war 1934 ihre Ausreise nach Moskau durchgesetzt worden. Zwei Jahre später hat Hitler seine Macht gefestigt, die Faschisten sind überall im Vormarsch, der Spanische Bürgerkrieg steht bevor, die Schauprozesse in Moskau haben begonnen. Wer denkt unter diesen Umständen an Olga Benario (und an ihre deutschen Mitgefangenen, die Komintern-Abgeordneten Arthur und Elisabeth Ewert, die unmenschlich gefoltert werden)? Im Jahre 1936 bereitet Nazi-Deutschland die Olympischen Sommerspiele vor, ein aufwendiges Propagandaspektakel, um die Weltöffentlichkeit zu täuschen. Hitler ist an Olga Benarios Auslieferung nicht interessiert. Diktator Vargas betreibt sie. Will er sich bei den Nazis andienen? Ist es ein Racheakt an Luis Carlos Prestes? Sobald die kommunistische Jüdin per Schiff in Hamburg eintrifft, ist ihr Schicksal besiegelt. Ohne Anklage wird die Schwangere in „Schutzhaft“ genommen. Dona Leocadia und ihre Tochter organisieren den Briefwechsel zwischen Luis Carlos und Olga. Er darf nur portugiesisch schreiben und Briefe in seiner Landessprache empfangen. Bei Olga ist es umgekehrt. Die Briefe müssen hin- und her übersetzt werden. Es sind beeindruckende Zeugnisse zweier wunderbarer Menschen:
„Meine geliebte Kleine, in Deinem Brief fragst Du mich, ob mir ihr Name gefällt. (Olga nannte ihr Kind Anita Leocadia)…Natürlich hätte ich ihr den Namen Olga Leocadia gegeben…Olga wird sie immer sein, denn sie ist ein Teil von Dir, ein wahres Wunder Deiner Hingabe und Liebe.“
Dona Leocadia gelingt es nicht, Olga im Gefängnis zu besuchen. Aber sie erreicht die Auslieferung des vierzehn Monate alten Babys und rettet sich mit ihm nach Paris. Die untröstliche Mutter vergleicht den Tag, als man ihr das Kind wegnimmt, mit dem Tag ihrer Festnahme in Brasilien.
„Mein lieber Karli! Du wirst – soweit ein Mann überhaupt dazu imstande ist – verstehen, was in mir vorging … Angesichts solcher Ereignisse steht man vor der Alternative: daran zu zerbrechen oder hart zu werden. Du weißt, dass nur das Zweite für mich in Frage kommt.“
Im Februar 1938 wird Olga Benario nach Prettin verlegt, in das KZ Schloss Lichtenburg. Dort kommt sie mit jüdischen Frauen zusammen, die nach dem November-Pogrom zur Abschreckung weggesperrt wurden. Sie erzählen von ihren Ausreiseplänen. Das stärkt Olgas Hoffnung auf ein baldiges Wiedersehen mit ihrem Kind. Anita lebt mit Großmutter und Tante inzwischen im mexikanischen Exil.
Als Olga im August 1939 aus dem KZ Ravensbrück (sie ist dort seit Mai inhaftiert), noch einmal nach Berlin überstellt wird, hofft sie auf ihre Freilassung. Doch sie wird nach Ravensbrück zurückgebracht. Das ersehnte Visum erreicht sie erst am 27. September 1939. Sie teilt der Schwiegermutter mit: „Habe vom mexikanischen Konsulat, Hamburg, Einreise nach Mexiko erhalten, aber fürchte, keinen Gebrauch davon machen zu können.“
Es ist zu spät. Olga schreibt jetzt seltener. Die Kraft, die ihr bleibt, konzentriert sie auf ihr Überleben. Sie ist 34 Jahre alt, als man sie in Bernburg vergast. Luis Carlos Prestes wird nach neun Jahren Einzelhaft im Frühjahr 1945 amnestiert.
Am 28. Oktober 1945 lernt der Vater seine neun Jahre alte Tochter kennen. 1951 heiratet der inzwischen dreiundfünfzigjährige Prestes und hat mit seiner Frau Maria noch sieben Kinder. Er stirbt am 7. März 1990 im Alter von 92 Jahren in Rio.
Dem Herausgeber Robert Cohen ist zu danken, dass die Briefe erstmalig vollständig in deutscher Übersetzung vorliegen.
Robert Cohen (Hrsg.): Olga Benario, Luis Carlos Prestes – Die Unbeugsamen. Briefwechsel aus Gefängnis und KZ, Wallstein Verlag 2013, 270 Seiten, 24,90 Euro.
Schlagwörter: Luis Carlos Prestes, Olga Benario, Renate Drommer