16. Jahrgang | Nummer 20 | 30. September 2013

Gerds Geigen und Gitarren

von Walter Thomas Heyn

Sein wohlverdientes Ständchen, oder besser gesagt, seine zahllosen Ständchen hat er sich selbst geschrieben. Und Geigen und Gitarren, sprich die Musik in all ihren Facetten, werden wohl immer um ihn gewesen sein und es auch immer bleiben. An Gerd Natschinski kann man sehen, dass die Musik jung und frisch erhält, ein langes Leben beschert und mancherlei Gram und Sorgen fernhält.
Das ist schon mal einen ersten Tusch wert!
Den Titel „Gerds Geigen und Gitarren“ trug eine Langspielplatte, die ich zum 16. Geburtstag geschenkt bekam. Eigentlich wollte ich Beat-Musik haben, und zwar von Natschinskis ältestem Sohn Thomas, der mit seiner Gruppe „Team 4“ gerade die Hitparaden des Ostens stürmte. Aber weder meiner Mutter noch dem Verkäufer war der kleine Unterschied in den Vornamen aufgefallen. Außerdem hatte „Gerds Geigen und Gitarren“-LP ein hübsches, stilisiertes Blumenmuster in Rot und Gelb als Cover, während die Veröffentlichung von „Team 4“ nur eine Single war und vorne drauf ungepflegte Langhaarige zu sehen waren. Das konnte und wollte meine Mutter nicht gutheißen.
„Gerds Geigen und Gitarren“-LP ist aber nicht nur eine beliebige Veröffentlichung. Sie beinhaltet auch ein kompositorisches Programm, nämlich der U-Musik schöne Melodien und schwelgerische Klänge zuzugestehen, aber darunter durchaus flotte Beats laufen zu lassen, mehr oder weniger harte, aber konsequent eingesetzte Rhythmusgruppen zur Basis fast aller Titel zu machen. Schon als junger Kompositionsstudent und dann später als Gitarrist zur Aufbesserung des Stipendiums in der Leipziger „Musikalischen Komödie“ tätig, fiel mir das auf. Besser gesagt, meinem Lehrer Ralph Rank fiel das auf, der dort erster Kapellmeister war und mich in die Orchesterarbeit, aber auch in die Künste des Arrangements und der Instrumentierung einführte. Dieser erfahrene Mann sagte immer zu mir: „Schauen Sie sich die Natschinski-Partituren an. Die sind anders gemacht, wie die anderen Ost-Musicals und sie klingen besser.“ „Besser“ klingen hieß für ihn, dass die Titel amerikanischer, jazziger, frecher und moderner klangen. „Schmissig“ nannte man das damals. Und noch heute kann ich Titel von „Mein Freund Bunburry“ auswendig, heute noch sage ich manchmal zum Spaß in irgendeiner Probe: „Black Botton, den hotten / Jazz-Bands and Husbands.“ Wer dann lacht, ist lange dabei.
Natschinski selbst sagt dazu: „Das Wichtigste war zu versuchen, das eigene Schaffen kontinuierlich durchzusetzen, auch den eigenen Stil. Und wenn auch im sozialistischen Bereich der amerikanische Stil als ‚typisch kapitalistisch’ verpönt war, dann hat man trotzdem auf Vorbilder wie Henry Mancini und Nelson Riddle geschaut und sich an ihnen orientiert. Ich wurde oft gefragt, ob wir uns die westdeutschen Kollegen und ihre Hits zum Vorbild genommen haben. Meine Antwort lautete: ‚Wir haben uns mit ihnen gemeinsam die großen Amerikaner zum Vorbild genommen!’“
Auch Conny Odd, mein anderer Lehrer, der ewig unterlegenen Rivale im Kampf mit Gerd Natschinski um den Thron des besten Musicalkomponisten, studierte heimlich an der Leipziger Musikhochschule die Klavierauszüge des Kollegen, und sagte mehr oder weniger bewundernd: „Da, schau! Da steht eigentlich nicht viel, aber es wird auf der Bühne kolossal wirken. Und da, diese interessanten Harmonien und diese hübsche Wendung in den Mittelstimmen. Da wäre ich gar nichts drauf gekommen.“ Als er uns bei Rotwein sein neues Musical vorstellte, hörte ich an einigen (wenigen) Stellen ein paar Natschinski-Takte als Begleitung. Ich fragte nach und er sagte mit leicht errötetem Kopf, was natürlich vom Wein kam: „Man kann an so einer Stelle nichts Besseres machen als Gerd. Ich nicht und Du auch nicht.“
Tusch!
Leipzig war sowieso ein gutes Pflaster, für die leichte Muse des Ländchens insgesamt, aber auch für Gerd Natschinski. Der 1928 in Chemnitz geborene und in Dresden aufgewachsene Komponist begann seine Musikkarriere in Leipzig, wo er mit 20 sein eigenes Unterhaltungsorchester leitete und regelmäßig Rundfunk-Sendungen auch mit eigenen Werken dirigierte. Anfang der 50er Jahre entstand für die DEFA seine erste Filmmusik, hier wurde der Komponist Hanns Eisler auf ihn aufmerksam, dessen Meisterschüler er wurde.
Natschinski schreibt darüber: „Ich habe mich nicht um das Studium bei ihm beworben. Eisler hat Anfang der 50er Jahre Filmmusiken für die DEFA komponiert, hat in Babelsberg zufällig eine meiner ersten Filmmusiken gehört und mich zu sich nach Berlin eingeladen. In seinem Unterricht an der Akademie der Künste wollte ich gern ein Streichquartett schreiben, aber er sagte sofort ‚Schreiben Sie Gebrauchsmusik, das ist eine Musik die gebraucht wird! Sie bringen das mit in den Unterricht, woran sie gerade arbeiten, und darüber reden wir!’ Eisler hatte mich also nicht trotz, sondern wegen meiner Tendenz zur U-Musik geholt, er wollte das Spektrum seiner fünf Meisterschüler um einen Komponisten der anderen Gattung erweitern.“
Gut 70 Filmmusiken („Hart am Wind“) und 400 Schlager und Chansons („Die Rose war rot“) stammen von Gerd Natschinski. Und mit „Mein Freund Bunburry“ (1964) schrieb er Geschichte. Dafür gab’s sogar den Nationalpreis. Natschinski selbst schätzt sein Schaffen so ein: „Ich bin ein Theater- und Filmkomponist, der sich in die Situation der Akteure versetzt. Dem entsprechend gestalte ich musikalisch die Handlung. Sogar viele meiner Lieder habe ich unter einem dramatischen Gesichtspunkt konzipiert, auch wenn sie in keinem Film oder Theaterstück zuhause waren. Auch versuche ich ganz bestimmte Bevölkerungsgruppen anzusprechen, die sich mit einem Song identifizieren können. Solche Lieder haben eine Chance, Evergreens zu werden wie beispielsweise ‚Zwei gute Freunde’ und ‚Damals’. Ein weiteres Erfolgsgeheimnis ist: ‚Nicht mehr verlangen, als die Praxis hergibt!’ Wenn ich weiß, dass ein Theaterorchester nur eine beschränkte Probenzahl zur Verfügung hat, dann kann ich in ein Musical keine halsbrecherischen Passagen hineinschreiben, sondern muss mir andere Highlights einfallen lassen. Das betrifft auch die Anforderungen an die Sänger. Meine Bühnenwerke sind fürs mitteleuropäische Ensemble-Theater komponiert.“
Aber da wird es vermutlich manche Enttäuschung gegeben haben. Vor fünf Jahren sagte er mal: „Es hat keinen Sinn mehr, für das Stadttheater zu schreiben. Dort kommt unsereiner nicht mehr vor.“ Trotzdem hat er sich immer wieder eingesetzt, auch und vor allem für die Kollegen, in seiner langjährigen Arbeit als Vorsitzender der Dramatiker-Union, die er vor dem Erlöschen bewahrte und erfolgreich wiederbelebte. Auf den Aspekt des erfolgreichen und vor allem sehr engagierten Kulturpolitikers wies sein Nachfolger im Amte, der Komponist Thomas Bürkholz beim Festakt in Hellersdorf ausdrücklich hin. Aus eigener Erfahrung kann ich bestätigen, dass Natschinski schon zu Ostzeiten ein geschätzter Kollege und für den Komponistenverband in mancherlei hochrangiger Funktion tätig war. Nun wird er 85 Jahre alt und blickt auf ein schier unübersehbares Werk zurück, auf hunderte Schallplatten, auf tausende oder wahrscheinlich sogar zehntausende Aufführungen „all over the World“. Das ist eine unglaubliche Erfolgsgeschichte, die man ruhig bewundern oder beneiden darf.
Der Komponist schreibt an seinen Lebenserinnerungen, in denen auch Raubtiere eine gewisse Rolle spielen. Mehr soll hier nicht verraten werden. Trotzdem hatte ich den Eindruck, er langweilt sich ein bisschen. Sollte also jemand, der diese Zeilen liest, zufällig ein ordentliches Libretto zu liegen haben…, ich kenne da einen Komponisten.
Und der kriegt jetzt seinen dritten Tusch zu hören.