von Andreas Peglau
Vor 80 Jahren, im August oder September 1933, veröffentlichte Wilhelm Reich (1897-1957) die Massenpsychologie des Faschismus: die erste Abhandlung eines Psychoanalytikers über die „rechten“ Massenbewegungen. Bis heute ist sie der ausführlichste und – neben Ausarbeitungen Erich Fromms – der einzige psychoanalytische Versuch geblieben, eine spezifische und umfassende Theorie der psychosozialen Basis des Faschismus zu formulieren.
Geschrieben hatte Reich dieses Buch zwischen 1930 und 1933 in seiner Berliner Zeit, über die bislang wenige Informationen vorlagen. In mehrjährigen Recherchen konnte ich diese Lücke weitgehend schließen. Damit verbunden war, die Situation der Psychoanalyse im NS-Staat zu erforschen. Bei beiden Themen bin ich auf Resultate gestoßen, die bisherigen Sichtweisen teils klar widersprechen.
Bis heute wird auch in Fachkreisen vielfach die Meinung vertreten, der Name Sigmund Freud, dessen Erkenntnisse und Wortschöpfungen durften in NS-Deutschland nur in herabwürdigender Weise erwähnt werden. So schrieben 2004 die prominente französische Psychoanalytikerin Elisabeth Roudinesco und ihr Ko-Autor Michel Plon im Wörterbuch der Psychoanalyse, der Nationalsozialismus sah „die radikale Vernichtung“ der analytischen „Begriffe, Werke, Institutionen, Bewegung und Therapeuten“ vor, habe ein „Vernichtungsprogramm der Psychoanalyse“ durchgeführt. Das ist falsch. Wenn Analytiker zu NS-Opfern wurden, dann nie, weil sie Analytiker waren, sondern wegen ihrer jüdischen Herkunft oder widerständigen, vor allem „linken“ Äußerungen oder Aktivitäten. Der einzige Psychoanalytiker, der wegen seines politischen Engagements 1933 aus Preußen, 1934 wohl auch aus Gesamt-Deutschland ausgewiesen und 1939 ausgebürgert wurde, war Wilhelm Reich. Konsequent unterdrückt wurde nur ein sehr kleiner Teil der Psychoanalyse, nämlich deren offen gesellschaftskritische, „linke“ Ausrichtung – deren Hauptvertreter Reich war. Zusätzlich zu Sigmund Freud ist nur für drei Analytiker gesichert, dass ihre Bücher in die Verbrennungen des Jahres 1933 einbezogen waren: Anna Freud, Siegfried Bernfeld und Wilhelm Reich. Bei den im Mai 1933 eingeleiteten Publikationsverboten wurde die Psychoanalyse allgemein bereits auf relativ tolerante Weise beurteilt – einmal mehr mit der Ausnahme Wilhelm Reich. Ein Komplettverbot psychoanalytischer Literatur war nie geplant, ist auch nie erfolgt. Ebenfalls unzutreffend ist, dass die Analyse nur noch diffamierend abgehandelt wurde: In führenden deutschen Fachjournalen und anderer Fachliteratur wurde häufig, offen und oft eindeutig positiv zu Aspekten von Freuds Lehre Stellung genommen und analytische Terminologie verwendet, analytische Schriften zustimmend rezensiert. Am 14. Mai 1939 findet sich sogar im Völkischen Beobachter das vorsichtige Lob einer – allerdings als „arisch“ umgedeuteten – Psychoanalyse. Von einem pauschalen Verbot oder gar einer „Ausrottung“ kann also weder bezüglich der Psychoanalyse noch ihres Vokabulars oder ihrer Schriften die Rede sein.
Dass dies möglich war, lag nicht zuletzt an der Anpassung der in Deutschland verbliebenen Analytiker und der ihnen dabei gewährten Unterstützung durch die Internationale Psychoanalytische Vereinigung IPV. Der einzige Analytiker, der diese Anpassung empfindlich störte, war Wilhelm Reich.
Schon in Wien hatte Reich zu den produktivsten und bekanntesten Mitstreitern Freuds gehört. Nachdem er im November 1930 nach Berlin gezogen war, dürfte er für die folgenden zwei Jahre nach Freud der erfolgreichste psychoanalytische Autor im deutschen Sprachraum gewesen sein. Gestützt auf die Organisationsstrukturen der KPD – deren Mitglied Reich spätestens Anfang 1931 wurde – erlangten er und seine „linke“ Psychoanalyseausdeutung eine so große öffentliche Wirksamkeit, dass Freud bald darauf befürchtete, seine Lehre könne in Deutschland mit Reichs Auffassungen gleichgesetzt werden. Reich engagierte sich hier in exponierter Weise gegen den Abtreibungsparagraphen 218, als Dozent der Marxistischen Arbeiterschule MASCH und als Leitungsmitglied der KPD-nahen „Einheitsverbände für proletarische Sexualreform und Mutterschutz“. In seinen durch KP-Medien beworbenen und durch den KP-Vertrieb zu Tausenden verbreiteten Schriften verband er psychoanalytische und marxistische Ideen. All das stand im Widerspruch zu den gleichzeitigen Bemühungen der IPV, der Psychoanalyse ein unpolitisch-wertfreies Image zu verschaffen. Letztere Intention verstärkte sich nach der NS-Machtübernahme, wollte man doch so viel wie möglich von den analytischen Institutionen in Deutschland retten.
Im dänischen Exil – er war im April 1933 aus Deutschland geflüchtet – eröffnete Reich seine publizistischen Angriffe auf den Faschismus mit der Massenpsychologie. Man dürfe, hieß es dort zu Beginn, „die nationalsozialistische Bewegung“ nicht als „ein Werk von Gaunern und Volksbetrügern“ abtun,
„auch wenn sich in ihr Gauner und Volksbetrüger befinden. Hitler ist nur objektiv ein Volksbetrüger, indem er die Herrschaft des Großkapitals verschärft; subjektiv ist er ein ehrlich überzeugter Fanatiker des deutschen Imperialismus, dem ein objektiv begründeter Riesenerfolg den Ausbruch der Geisteskrankheit erspart hat, die er in sich trägt. Es führt nicht nur in eine Sackgasse, sondern erzielt das gerade Gegenteil des Beabsichtigten, wenn man die nationalsozialistische Führung mit alten, abgeschmackten Methoden lächerlich zu machen versucht. Sie hat mit unerhörter Energie und großem Geschick Massen wirklich begeistert und dadurch die Macht erobert. Der Nationalsozialismus ist unser Todfeind, aber wir können ihn nur schlagen, wenn wir seine Stärken richtig einschätzen und mutig aussprechen.“
Zur Demaskierung des NS-Systems machte Reich auf den folgenden knapp 300 Seiten intensiven Gebrauch von der Psychoanalyse. Eine ganz andere Verwendung der Freudschen Lehre schlug – mit IPV-Rückendeckung – am 22.10.1933 das Vorstandsmitglied der deutschen Analytikervereinigung, Carl Müller-Braunschweig, in der NS-Wochenzeitung Der Reichswart vor:
„Die Psychoanalyse bemüht sich, unfähige Weichlinge zu lebenstüchtigen Menschen, Instinktgehemmte zu Instinktsicheren, lebensfremde Phantasten zu Menschen, die den Wirklichkeiten ins Auge zu sehen vermögen, ihren Triebimpulsen Ausgelieferte zu solchen, die ihre Triebe zu beherrschen vermögen, liebesunfähige und egoistische Menschen zu liebes- und opferfähigen, am Ganzen des Lebens Uninteressierte zu Dienern am Ganzen umzuformen. Damit leistet sie eine hervorragende Erziehungsarbeit und vermag den gerade jetzt neu herausgestellten Linien einer heroischen, realitätszugewandten, aufbauenden Lebensauffassung neu zu dienen.“
Wer das glaubhaft machen wollte, durfte den längst zum NS-Feindbild gewordenen jüdischen Kommunisten Reich nicht mehr in seinen Reihen haben. Nachdem Reich bereits im Herbst 1933 – mit deutlichem Verweis auf die Massenpsychologie – aus den kommunistischen Organisationen ausgeschlossen worden war, erfolgte im Sommer 1934 der Ausschluss aus den psychoanalytischen. Dies wurde zu einer grundsätzlichen Weichenstellung: Die zuvor oftmals gesellschaftskritische Psychoanalyse verkümmerte nun zusehends zur bloßen Therapiemethode und verlor damit ihre gesellschaftliche Relevanz. Ohne dass sich die Psychoanalytiker weit offener als bisher mit der Rolle ihrer Lehre im NS-System – und mit Wilhelm Reich – konfrontieren, wird sich daran auch nichts ändern.
Andreas Peglaus Buch „Unpolitische Wissenschaft? Wilhelm Reich und die Psychoanalyse im Nationalsozialismus“ erscheint im August 2013 im Psychosozial-Verlag Gießen. Es hat 640 Seiten inklusive eines Vorwortes von Helmut Dahmer und eines 50-seitigen Dokumentenanhanges und kostet 44,90 Euro.
Andreas Peglau, Jahrgang 1957, ist Diplom-Psychologe und Psychoanalytiker und arbeitet in freier Praxis in Berlin.
Schlagwörter: Andreas Peglau, Faschismus, Massenpsychologie, Psychoanalyse, Wilhelm Reich