von Wulf Lapins, Prishtina
Wanderer kommst Du nach … nein nicht nach Sparta … kommst Du nach Prishtina, der Hauptstadt von Kosovo, und Du bist jung – dann kannst Du Dich wie ein Fisch im Wasser bewegen und fällst altersgemäß im Straßenbild nicht auf. Gut die Hälfte der rund 1,8 Millionen Kosovo-Albaner ist nämlich unter 25 Jahren alt. Das Durchschnittsalter beträgt 27,5 Jahre. Von der jungen Generation wird es abhängen, wie dynamisch und international aufgestellt der jüngste Staat Europas mit auch der jüngsten Gesellschaft seine Zukunft gestalten wird.
Ihre Perspektive beurteilt die Jugend nach einer jüngsten repräsentativen Studie (16-27 Jahre) jedoch skeptisch. Ausbildung, Arbeitslosigkeit, Korruption, Emigration konstituieren für sie die gesellschaftspolitische Problemquadratur, aus der heraus in der überschaubaren Zeit nichts Positives rund laufen wird.
Gut 90 Prozent der Jugendlichen und jungen Erwachsenen erstreben eine universitäre Ausbildung. Auf dieser Basis erhoffen sie sich einen gesicherten Lebensstandard, am liebsten im Staatsdienst oder bei internationalen Organisationen. Wegen der begrenzten Plätze an den drei staatlichen Universitäten sowie der privaten non-profit American University sind Klagen über intransparente Zulassungen, generelle Unterfinanzierung und schlechte Lehrqualität, Vorteilnahme durch Beziehungen sowie Bestechungszahlungen für Examensprüfungen an der Tagesordnung – 68 Prozent geben an, das sei die Regel. Wer in der Lage ist, Studiengebühren bis zur Höhe des Durchschnittslohns von 350 Euro monatlich zu bezahlen, besucht für die angestrebte akademische Ausbildung die mehr als ein Dutzend privaten Colleges. Kaum einer möchte noch einen handwerklichen-, Dienstleistung- oder gar agrarischen Beruf ergreifen.
Wunsch, Hoffnung, Anspruch und Wirklichkeit klaffen aber in dem ärmsten Land Europas weit auseinander. 70 Prozent der unter 30-Jährigen befinden sich auf Arbeitssuche. Jedes Jahr treten gut 30.000 junge Menschen, nicht selten niedrig qualifiziert, altersgemäß formal in das Arbeitsleben ein. Der schwach ausgeprägte Arbeitsmarkt kann diesen stetigen Zustrom überhaupt nicht absorbieren, weder in Gestalt von Ausbildungsstätten, erst recht nicht als Beschäftigungsverhältnisse. Die daraus resultierende extrem hohe Jugendarbeitslosigkeit ist mit Blick auf südeuropäische EU-Länder auch in Kosovo potenzieller sozialer Sprengstoff. Doch hier kann, anders als in Nachbarstaaten, von Brüssel keine Finanzhilfe erwartet werden.
Insgesamt liegt die Arbeitslosenquote bei weit mehr als 40 Prozent. Knapp 30 Prozent der Bevölkerung lebt mit einem „offiziellen“ Durchschnittseinkommen von 1,50 Euro pro Tag unterhalb der Armutsgrenze. Die weit verbreitete landwirtschaftlich geprägte familiäre Subsistenzwirtschaft, allerdings mit geringer Produktivität, sichert immerhin eine einfache Ernährungsbasis. Allerdings ist der informelle Arbeitssektor (Schattenwirtschaft) sehr ausgeprägt, so dass statistische Angaben das reale Leben nur bedingt widerspiegeln.
Die kosovarische Wirtschaftskammer konstatiert für eine effektive Bekämpfung der sozialen Misere den Bedarf eines doppelt so hohen Wachstums, wie es gegenwärtig erreicht wird; das beträgt ungefähr drei Prozent. Die Inflation bewegt sich aber auch auf einem Niveau von etwa drei Prozent. Mit 14 Prozent für Privat- und 17 Prozent für Unternehmenskredite sind die Zinsen in Kosovo die höchsten auf dem Westbalkan und würgen damit Konsumfreude und Unternehmertum regelrecht ab.
Das niedrige Haushaltsbudget (1,58 Milliarden Euro) sowie das nur schwach ausgeprägte sozialpolitische Verantwortungsbewusstsein der in staatlicher Verantwortung stehenden politischen Eliten begrenzen das öffentliche Wohlfahrtsystem. Es verlässt sich wesentlich auf den Familienverband als Grundeinheit der sozialen Hilfe. So beträgt die staatlich finanzierte soziale Grundsicherung ab dem 65. Lebensjahr nur 45,00 Euro und die Einheitsrente 80,00 Euro im Monat. Dagegen hat die Regierung für den Ausbau der Autobahnen in diesem Jahr 247 Millionen eingeplant. Geld, um endlich eine Arbeitslosen- und Krankenversicherung aufzubauen, ist im Haushalt hingegen erneut nicht vorgesehen. Dass die Anlegung von Autobahnen klar Priorität vor der Bekämpfung eklatanter sozialer Missstände hat, überrascht jedoch nicht. Denn damit lässt sich viel Geld verdienen. Federführend im Autobahnbau in Kosovo ist das amerikanisch-türkische Konsortium Bechtel & Enka. Die Kosten eines durch dieses Unternehmen errichteten Autobahnteilstücks waren pro Kilometer fast dreimal so hoch wie im Durchschnitt in EU-Europa. Journalisten und politische Beobachter hierzulande sprechen in diesem Kontext von massiver Korruption bis in höchste Regierungskreise.
Auffallend ist allemal die Unternehmertätigkeit von hochrangigen vormaligen Repräsentanten aus dem politischen und militärischen US-Establishment. Es locken Rohstoffabbau und Privatisierungen. Hier wären als Spitze des Eisbergs zu nennen:
– Albright Capital Management; die Firma ist Teilhaberin des slowenischen Mobilfunkunternehmen IPKO. In Kosovo nimmt sie Platz zwei bei der Telekommunikation ein.
– Wesley Clarks Energie-Investitionsfirma Envidity; diese beantragte 2012 bei der kosovarischen Regierung die Lizenz für die potenziell milliardenschwere Kohleförderung.
Bekannte Namen! Während des Kosovo-Krieges 1991 war Madelaine Albright US-Außenministerin und Clark fungierte als Oberbefehlshaber der NATO. Für Bechtel wiederum arbeitet mit Joe Covey ein früherer US-Gesandter bei UNMIK, der UN-Interim-Verwaltungsmission in Kosovo. Lukrative Vermittlungsberatung beim Autobahnbau sowie anderen Privatisierungsvorhaben betrieb zudem Christopher Dell bereits während seiner Amtszeit als US-Botschafter. Seine Druck ausübende Rolle bei dem Parteiengekungel um die „Wahl“ von Atifete Jahjaga zur neuen Präsidentin von Kosovo im April 2011 war lange Zeit das politische Gespräch im Land. Auch der frühere britische NATO-Kommandeur während des Kosovo-Krieges, Michael Jackson, ist zu Geschäften in das Land zurückgekehrt. Er heuerte bei der PA Consulting Group an, die den (noch) staatlichen kosovarische Energiekonzern KEK berät.
Wer sich aus seiner Studentenzeit der Wirtschafts- und Sozialwissenschaften noch an die Frühschrift von Friedrich Engels zur „Lage der arbeitenden Klasse in England (1845)“ erinnert, kann einige Ähnlichkeiten mit den dort beschriebenen sozialökonomischen Umständen in Kosovo heute wiederfinden.
Vor diesem Hintergrund helfen sich die Kosovo-Albaner mit im wesentlich drei Überlebensstrategien:
1. Transferleistungen aus der Diaspora.
2. Arbeitsemigration.
3. Was in Deutschland unter dem Begriff Nachbarschaftshilfe firmiert, ist in Kosovo in weit größerem Maßstab ein quid pro quo. Am Beispiel des Wohnungsbaus wird das später erläutert. Geschätzte 420.000 Kosovo-Albaner leben – die Reihenfolge entspricht zugleich dem Ranking – in: Deutschland, der Schweiz, Italien, Großbritannien sowie in den USA und unterstützen ihre Verwandten in der Heimat durch Finanztransfers. Diese Überweisungen betragen jährlich rund 950 Millionen US-Dollar, was etwa 15 Prozent des kosovarischen Bruttoinlandsprodukts (6,4 Milliarden US-Dollar) entspricht.. So wichtig diese Zahlungen individuell und familiär sind, sie verursachen nicht selten auch den Effekt einer gewissen „Hängematten-Mentalität“. Mit 200-300 Euro im Monat von den Diaspora-Verwandten kann man nämlich auch in der Hauptstadt, insbesondere als junger Mensch, recht gut leben. Denn in der Regel wohnt man noch im „Hotel Mama“ und ist zudem eingebettet in ein großfamiliäres Netzwerk. Erst seit kurzem gibt es in der Regierung planerische Überlegungen, wie die Diaspora ihre Finanzhilfen in Kosovo in Investitionsprojekte stecken und nicht mehr vorrangig als individuelle Direkthilfen für den Konsum leisten sollte. Damit könnten sich bereits mittelfristig erste positive Auswirkungen auf den Beschäftigungssektor einstellen.
Wird fortgesetzt.
Der Autor wohnt und arbeitet seit über einem Jahr in Kosovo.
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