16. Jahrgang | Nummer 13 | 24. Juni 2013

Ein japanischer Spaziergang: die alte und die neue Hauptstadt in der Sommerhitze

von Sem Pflaumenfeld, Kyoto

Nun hat uns die Regenzeit erreicht. Bis in die letzte Woche hinein ächzten die Regionen um die neue und die alte Hauptstadt unter der Sonneneinstrahlung und der trockenen Hitze. Die Flussbetten waren so trocken, dass sie das Wasser, das eigentlich schon viel früher hätte kommen sollen, nicht halten können. Während in der frühen Neuzeit das ausgetrocknete Flussbett des Kamogawa ein Motiv in Kunst und Literatur für heimliche Liebestreffen im Schatten der Brücken war, ist es heute ein Anzeichen, dass das Land die Erderwärmung nicht mehr auf die leichte Schulter nehmen darf. Das Wetter spielt auch hier verrückt, in der letzten Woche wurde für Regen gebetet. Nun melden die Nachrichtenstationen in vielen Teilen des Landes Überflutungen.
Premierminister Abe befindet sich gerade auf einer Charmeoffensive in Nordirland und möchte dort die Regierungen der anderen G8-Staaten von seinen Abenomics – in historischer Referenz an die Reagonomics unter Präsident Ronald Reagan in den 1980er Jahren – überzeugen. Das umfasst eine drastische Deflation, um die Energie- und Automobilwirtschaft zu fördern. Außerdem soll sie dem Immobilienmarkt auf die Füße helfen, da die innerjapanische Befürchtung besteht, dass die großen Häuserblocks in den Innenstädten von chinesischen Firmen aufgekauft werden. Die künstliche Senkung des Yen führt jetzt zu Preissteigerungen bei Lebensmitteln. Gegen die Hitze hilft dagegen, dass die Energiepreise stabil bleiben sollen. Vor den Oberhauswahlen am 21. Juli wird dann auch vorsichtig diskutiert, ob nicht die Atomkraftwerke wieder ans Netz gehen sollten.
Am letzten Wochenende war ich zu einer Konferenz in Tokyo. Zu Fuß dauert die Reise 109 Stunden, informierte mich das Internet. Jedoch sind nur noch wenige Reste der alten Handelsstraße der Tôkaidô zwischen Edo und Kyoto noch erhalten. Heute müsste ich auf Autobahnen über die Berge wandern. Ich ersparte mir diesen Weg bei der Hitze und gönnte mir den Luxus, die zweieinhalb Stunden mit dem Shinkansen zu fahren. Das ist eine der bequemsten und angenehmsten Arten zu reisen, gleichzeitig auch eine der teuersten. Eine Strecke kostet ohne Reservierung von Kyoto Hauptbahnhof nach Tokyo Hauptbahnhof umgerechnet circa 110 Euro. Für Kurzzeitreisende lohnt sich deswegen immer auch der Japan Rail Pass, um die Kosten für die Bahnfahrten mit der JR zu mildern.
Ich nutzte meine Zeit der Forschung am Sonntag auch für einen Spaziergang in der Unterstadt (Shitamachi), dem Teil der Hauptstadt im Osten (To-kyo), in dem die Stadtbevölkerung und damit die unterste der vier feudalen Klassen wohnte. So fuhren drei Frauen in der größten Mittagshitze mit der Yamanote-Linie, der hauptstädtischen Ringbahn, bis Nippori, um dann im Teil Yanaka zu flanieren. Er ist vor allem für die alten Häuser aus dem 19. Jahrhundert sowie für den großen Friedhof mit dem Grab des letzten Shôgun bekannt. Viele schreibende Menschen lebten Ende bis zu den Zwischenkriegsjahren hier, weil das Gefühl, nahe an der arbeitenden Bevölkerung zu wohnen, ihr Werk bestimmte und die Mietpreise senkte. Eine der ersten schreibenden Frauen, die von ihrem Werk leben wollte und am Ende ihres Lebens ihre Familie ernähren konnte, lebte in dem Viertel unterhalb des Shôgunpalastes und der heutigen Kaiserresidenz. Higuchi Ichiyô (1872-1896) zog mit ihrer Mutter und der jüngeren Schwester in ein kleines Haus an den Eingang zu Yoshiwara. Dieser durch Brücken abgetrennte Teil war eines der Geisha- und Rotlichtviertel, die aus der Edo-Zeit übriggeblieben waren. Der Laden, der die Frauen ernähren sollte, war kein Erfolg, aber ihre Werke machten Ichiyô über ihren frühen Tod an Tuberkulose hinaus zu einer der ersten Schriftstellerinnen der Neuzeit. Heute ziert ihr Gesicht den 5.000-Yen Schein.
Am Sonntag verbrachten wir viel Zeit in Restaurants und einem reizenden Kaffee unterhalb von Nippori. Während die Forschung über hiesige Teekulturen ganze Bibliotheken füllt, ist die Betrachtung von Kaffeekulturen noch recht jung. Der gemeinsame Genuss von Tee hat einen offiziellen oder auch intimen Charakter, Kaffee wird dagegen eher von Gruppen genossen, die einander freundschaftlich verbunden sind. Lerngruppen belegen auch in Tokyo und Kyoto die Franchise-Cafés, junge Frauen brüllen sich liebevoll über die kleinen Tische an. Es herrscht eine freundliche Lärmkulisse bei US-amerikanischen Jazz, die ich auch aus Berlin kenne. Nur mischen sich unter die lauten Stimmen, die Musik und das Geräusch der Lüftungsanlage noch die Willkommensrufe der Angestellten. Das japanische Fernsehen nennt diese Höflichkeit eine japanische Gastfreundlichkeit, ich nenne das in meinen schlimmeren Tagen einfach Lärmbelästigung.
Wir liefen durch die kleinen Straßen auf den Friedhof von Yanaka zu, um zum Bahnhof Ueno zu gelangen. Von dem alten Café aus den 1920er Jahren, das uns eine Auswahl von zwanzig Kaffees aus aller Welt präsentierte, würden wir in der Nachmittagshitze an Tempeln und Häusern von damals noch nicht berühmten Schreibenden vorbei an der nördlichen Seite des Ueno-Parks herauskommen. Auf meiner jetzigen Forschungsreise habe ich nur meine Kamera mit. Denn ich weigere mich mittlerweile, Digitalphotos ins Internet zu stellen, nur um meine Reise zu verifizieren. Es gibt von der Gegend so viele wunderbare Bilder zu sehen, dass meine nicht auch noch gebraucht werden. Außerdem versuchten wir, im Schatten zu bleiben, um der Hitze wenigstens ein wenig zu entfliehen. So kamen wir an der Tokyoter Kunsthochschule und am Nationalmuseum vorbei. Im Ueno-Park gab es an dem Tag ein Eisfestival, auf dem Menschen gegen die Hitze rodelten. Himmel und Menschen waren unterwegs, so dass wir uns nicht das überfüllte Franchise-Café im Park, sondern im Bahnhof Ueno aussuchten. Ich war um vier Uhr nachmittags angemessen müde, so dass mein Gehirn auf Japanisch nicht mehr ohne Störungen funktionierte.
Auch jetzt noch stellt die Sprache eine Anstrengung für mich dar, so dass ich mir – zusätzlich zu meiner Forschung – die Treffen mit Freundinnen und Freunden gerade in der Sommerhitze gewählt aussuche. Für meine Recherchen sitze ich in der Bibliothek des Instituts, an welchem ich forsche. Das hält mich nicht davon ab, gelegentlich verrückt zu werden. Aber das hat hier andere Gründe als in Tokyo. Von öffentlichen Geldern finanziert, wird über japanische Kultur geforscht. Das hat uns Forschern hier in den Bergen seit der Gründung den nicht unverdienten Ruf eingebracht, mit Forschung Politik zu machen. Es geht dabei um Diplomatie durch Forschung: der international angeschlagene Ruf des Landes soll durch die besondere Förderung ausländischer Forschung verbessert werden. Wir, die Forscher, dienen also letztendlich auch dazu, eine monolithisch gedachte japanische Kultur wissenschaftlich zu bestätigen. Ich habe meinen ganz persönlichen Anteil an dieser Fortschreibung, und der Regen hilft mir an manchen Tagen nur bedingt, einen kühlen Kopf zu behalten.