von Renate Hoffmann
In Amsterdam. Für einen Tag. Van Gogh? Rembrandt? Grachtenfahrt? Vincent! Er besitzt seit 1973 den eigenen großzügigen Museumsbau und seit einigen Jahren, als Erweiterung, die elegante Ellipse des Japaners Kisho Kurokawa. Allein Haus und Anbau sind der Betrachtung wert (Paulus Potterstraat 7). Vorübergehend zur Renovierung geschlossen und, wie vorgesehen, im Mai 2013 wieder besuchsbereit, enthielt man den Kunstbegeisterten in der Zwischenzeit Vincent van Gogh (1853-1890) nicht vor. Eine Auswahl seiner Gemälde war anderswo zu erleben. Ich eile zur „Hermitage“, An der Amstel 51. Erträgliche Anstehzeit – und ich bin drin – in der Welt des Malers, Zeichners, Zweiflers.
Suche nach dem großen Erntebild (La moisson), der Sommerlandschaft mit den reifen Feldern, der Mittagssonne, deren sengende Hitze man spürt und dem blauen Horizont der Berge. Suche auch nach der „Abenddämmerung“ bei Auvers-sur-Oise. Das Gemälde, auf dem zwei alte Birnbäume dunkel gegen das Licht der untergehenden Sonne stehen. Ein Feldweg führt in das Violett der aufziehenden Nacht. Stille, in die man hineingehen möchte.
Und inmitten von blauer Iris, Kornfeldern, blühenden Mandelzweigen, Sonnenblumen vor lindgrüner Wand, der Brücke von Langlois, dem gelben Haus in Arles … ein rotes Lackkästchen. Präsentiert auf einem schlanken Podest, hoch gesichert, als wäre es eine Preziose aus dem Kronschatz (einen Zentimeter zu nahe – schon piept es und ruft die Aufsichtsperson herbei). Das kleine Schloss ist ramponiert, der Deckel geöffnet, die Ecken sind abgestoßen, wohl vom häufigen Gebrauch. An den Innenflächen blättert die Lackschicht ab. Was enthält das Wunderkästchen?
Man denkt an Zeichenstifte, Farbtuben, Pastellkreiden, Utensilien aus Van Goghs Malerleben. Vielleicht auch an Briefschaften, er war ein fleißiger Schreiber. Oder an Andenken aus Paris, Arles, Saint Rémy-de-Provence, an denen diese oder jene Geschichte hing. Oder bewahrte er darin nur den Tabak für seine Pfeife auf? Nichts von alledem! Im roten Behältnis liegen … Wollknäuel: gelbe und rote, grüne, lilafarbene und solche in Beige. Andere wiederum bestehen aus zweifädiger Zweifarbigkeit: Rot-orange, Lila-gelb, Hellblau-weiß, Orange-grün und Grün-gelb. – Was aber tat er mit dem bunten, rätselaufgebenden Wollbällchen-Sortiment? Vincent erprobte Farbzusammenstellungen auf ihre Wirkung hin. Was passt zu wem – ganz bequem. Auch ließ er sich von dem „Knäuel-Spiel“ zu neuen Kombinationen ermutigen.
In seiner zweiten Pariser Periode (1886-1888) sah er die Arbeiten von Paul Signac (1863-1935), Georges Seurat (1859-1891), Paul Gaugin (1848-1903) und der Avantgarde. Ihre leuchtende, kräftige Farbwahl – oft hart aneinander gesetzt – überraschte ihn und gab seiner Palette eine andere Stimmung (das Dunkelviolett gegen den warmgelben Himmel der „Abenddämmerung“ kommt mir in den Sinn). Farben, Farben – ein Rausch.
Es drängt den Maler nach dem Süden. Seiner Schwester Willemien schreibt er im Herbst 1887: „Dort gibt es noch mehr Farbe und noch mehr Sonne.“ Und aus Arles an den Malerfreund Émile Bernard (1868-1941): „Das blasse Orange der Sonnenuntergänge läßt das Gelände blau erscheinen. Herrliche gelbe Sonnen.“ Der Bruder Theo erfährt im Juni 1888 vom Bruder Vincent: „In allem steckt jetzt Altgold, Bronze, beinah Kupfer, und dazu der grünblaue Himmel, erhitzt bis zur Weißglut, das ergibt eine herrliche Farbe, ungemein harmonisch, mit gebrochenen Tönen à la Delacroix.“ Von einem nächtlichen Strandspaziergang im Fischerdorf Les Saintes-Maries-sur-Mer, der Maler war ans Mittelmeer gefahren, berichtet er Theo (1888):
„Am tiefblauen Himmel standen Wolken von noch tieferem Blau als das Grundblau, ein intensives Kobalt, und noch andere von hellerem Blau, wie das blaue Weiß der Milchstraße. In der blauen Tiefe funkelten hell die Sterne, grünlich, gelb, weiß, noch hellere rosa, […] wie lauter Edelsteine. […] Das Meer ein ganz tiefes Ultramarin – der Strand ein veilchenblauer und blaßroter Ton.“ – Himmel und Erde verschmelzen zur „Rhapsodie in blue“.
Das Reich des Vincent van Gogh, der „an die unbedingte Notwendigkeit einer neuen Kunst der Farbe, des Zeichnens – und des künstlerischen Lebens (glaubte)“. Dies alles – Erinnerungen, Gedanken, Bilder, Farben, Landschaften – steckt in dem roten Lackkästchen.
Im Übrigen – der Maler liebte Gelb.
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