13. Jahrgang | Nummer 21 | 25. Oktober 2010

Pech am Lech

von Renate Hoffmann

Über den Lech (rechts der Donau und bei Marxheim in sie mündend) las ich, dass er ein Wildfluss sei, der viel von seiner Wildheit eingebüßt habe; gezähmt durch Staustufen und Stauseen, im Lauf gemaßregelt und streckenweise eingedeicht. Darunter litte die Natur an seinen Ufern erheblich. Zwischen Augsburg und Landsberg fände man nur noch vereinzelt „Lech-Urlandschaften“ und einige wenige Bestände von Auenwäldern. Das Verbliebene wäre unter strengen Schutz gestellt und eigentlich als naturmuseales Relikt zu betrachten.

Die weite Schotterebene südlich von Augsburg, aus Ablagerungen der letzten Eiszeit entstanden, werde „Lechfeld“ genannt. Und hier hätte im Jahre 955 eine Wende in der europäischen Geschichte stattgefunden. Durch ein kriegerisches Ereignis: Die Schlacht auf dem Lechfeld. – Neugier besiegt meine tiefe Abneigung gegen Kampfgetümmel.

Der Hergang: Seit Jahrzehnten berannten ungarische Stämme die südeuropäischen Länder und drangen weit westwärts vor. Als sie Augsburg belagerten, hatten sie nicht mit Kampfgeist und Schläue Bischof Ulrichs, des geistlichen Vaters der Stadt, gerechnet. In kluger Voraussicht hatte er bereits in zurückliegenden Jahren den städtischen Mauerring verstärken lassen und soll – so zeigt es sein Denkmal vor dem Augsburger Dom – zu Pferde die Verteidigung selbst geleitet haben. Der Feind kam zum Stehen. König Otto I. mit seiner Legio Regia und sieben weitere Heerhaufen rückten an. In Einzelgefechten und einer großen Feldschlacht wiesen sie am 10. August 955 die Ungarn in die Schranken.

Über die genaue Ortslage der Hauptkampfhandlungen ist man sich noch nicht endgültig schlüssig. Details vom Geschehen sind nur wenige bekannt. Ein Vorfall gilt als gesichert. Unter den Vielen, die ihr Leben verloren, befand sich auch Ottos Schwiegersohn Conrad der Rote. Ein Pfeil traf ihn. Hatte er doch (Leichtsinn!) wegen der herrschenden Hundstagshitze sein Visier geöffnet.

Scharmützel solchen Ausmaßes geschahen hier in der Folgezeit nicht mehr. Doch wuchs auch kein Unkraut auf der Walstatt. „Seit neuester Zeit nutzt das Bayerische Heer das Lechfeld als Übungsplatz“, teilt der Konversations-Meyer 1897 mit. Daraus entstand und verblieb ein Militärflughafen. Und seit allerneuester Zeit (1958) befindet sich dort das Jagdbombergeschwader 32. – Diesen Schauplatz werde ich weiträumig umgehen und mich dem Gebirgsfluss und seinen „Urlandschaften“ widmen, ehe sie vollends verschwinden. Dachte ich.

Der Lech fließt blaugrün in seinem Kiesbett. Flach und eilig, kleine Inseln umspülend; tief und ruhig, von Wasservögeln aufgesucht. Immergrün und Schachtelhalm gedeihen üppig an den Ufern. Sumpfdotterblumen drängen sich mit ihrem goldgelben Geblühe dazwischen. Am Weg geben Tafeln Auskunft über alles, was kreucht, fleucht und wächst. Vom nächtlichen Regen tropfen die Büsche, wenn der Wind sie bewegt. Staustufen, die den Lech zum See weiten, wechseln mit schmalen Stegen, die über Neben- oder Todarme des Flusses führen. – Man möchte immerfort weiter wandern.

Kurzes Zögern beim „Rasthof am Zollhaus“. Eintreten? Nicht eintreten? Für eine Kaffeepause den Rucksack von den Schultern nehmen? … Doch die schöne Landschaft auf der anderen Uferseite lockt. Ausgedehnte Wiesen und Baumgruppen liegen im Licht des Nachmittags. Ich überschreite die Brücke. In den Anblick der Natur vertieft, höre ich, ohne es ordnungsgemäß zu registrieren, Gewehrsalven und einzelne Schüsse. Aus einem und in ein Waldstück fahren Militärwagen heraus und hinein. Maschinengewehr-Geknatter. In Abständen sind beschriftete Schilder aufgestellt, die man doch wohl lesen sollte. „Militärisches Gebiet. Unbefugten Betreten bei Strafe verboten. Strafrechtliche Verfolgung. Schießanlage.“ Das Lechfeld! Ich stehe mitten in seiner, von mir geschmähten kriegerischen Tradition. Schleunigste Umkehr und Rettung an das rechte Flussufer.

Von einem plakativen, wuchtigen Wandbild am Brückenpfeiler sehen mich zwei Männer an: Otto I. und Bischof Ulrich von Augsburg; zu Pferd, mit Schwert. In machtvoller Pose – dunkelblau auf schwarzem Grund gemalt. Otto zeigt unmissverständlich ein spöttisches Lächeln.