16. Jahrgang | Nummer 10 | 13. Mai 2013

„Medea“ in Frankfurt – Was Theater kann

von Eric Baron

Medea. Der Schmerz. Der Schrei. Constanze Becker. Einst am Deutschen Theater die blutüberströmte Klytaimnestra, leiht die archaischste aller gegenwärtigen Schauspielerinnen nunmehr Medea am Schauspiel Frankfurt ihren Körper. Und wieder führt Michael Thalheimer Regie. Das feine Seziermesser, mit dem der Radikalregisseur die Stücke auseinandernimmt, erweist sich erneut als Fleischermesser, das ganz in Müllers Sinn durch unsere Schlafzimmer geht. Thalheimer inszeniert den Euripides mit einer solch intensiven Wucht, dass man den Schnitt des Seziermessers, den er bis ins Publikum verlängert, zunächst nicht spürt. Der Schmerz, der Schrei, Medea dringen tief in die klaffende Wunde, die Thalheimer hinterlässt. Atemlos sitze ich im Publikum, während der Schmerz, der Schrei, Medea von mir Besitz ergreifen, mich überwältigen. Atemlos. Sprachlos. Und doch kehren die Worte, die Gedanken nach dem Schlussapplaus ungefragt zurück. Wenn es eine Form für Theater geben kann, dann scheint es in der Tat der Schrei zu sein. Oder das Schweigen.
Die Bühne von Olaf Altmann bietet den passenden Raum dazu. Leere. Dunkelheit. Nur eine Feuerwand als Bühnenabschluss auf der Hinterbühne. Dann ein lautes Stapfen: Medeas Amme (Josefin Platt), schwarz gekleidet auf schwarzer Bühne, vorwärts getrieben vom Lichtkegel eines unbarmherzig grellen Scheinwerfers, stapft in gebückter Haltung Richtung Feuerwand, als zöge sie eine tonnenschwere Last hinter sich her. Das Schattenbild, das sie wirft, trügt: es zeigt eine Taube, die mit leichten Schwingen zum Flug ansetzt. Nein, die Amme droht an ihrer Last zugrunde zu gehen. Als sie die Feuerwand erreicht, kommt es zur Vereinigung von Figur und Schattenbild. Der Trug ist vorbei. Das Spiel kann beginnen. Die Feuerwand hebt sich und gibt Medea preis: halbhoch auf dem Laufsteg einer geteilten schwarzen Rückwand hockt sie. Mit dem Rücken an die Wand gedrängt und uns dennoch überragend: so erscheint uns Medea: ein Bündel Schmerz, ein verkörperlichter Schrei, der nur auf diesen Moment gewartet zu haben schien, um endlich auszubrechen: als Urschrei einer gepeinigten Seele, als Urschrei schlechthin. Ein Schrei, der durch Mark und Knochen geht. Ein Schrei, wie ihn nur Constanze Becker ausstoßen kann. Und in halber Höhe bleibt Medea im Bühnenhintergrund hocken, stehen, liegen. Sie krallt sich krampfhaft an der Rückwand fest, um nicht endgültig abzustürzen. Zeitlupenhaft fährt sie ihre Arme aus, wird kurzzeitig zur Gekreuzigten und muss mit ihrer Stimme gegen die schier unendliche Weite des Raumes, für sie ein einziger Abgrund, ankämpfen, damit ihre Worte nicht unerhört im Nirwana versinken. Ein unbändiger Kampf, Sprache zu formen! Statisch fast die anderen Figuren, die unterhalb Medeas auf dunkler Bühne agieren, getrieben vom stechenden Licht der seitlichen Scheinwerferkegel. Allen voran Jason, der Verräter (Marc Oliver Schulze), die Ursache für Medeas Schmerz, betrügt er sie doch mit einer anderen Frau, weil ihm Medea nicht mehr genügt. Zum Schmerz der Hohn: eine Patchwork-Familie hat er Medea vorgeschlagen. Sie kann es nicht fassen, kennt in ihrer Leidenschaft nur eins: Rache! Sie will Jason größtmöglichen Schmerz zufügen. Und also auch sich selbst: Sie will/wird die gemeinsamen Kinder töten. Ein grausamer Plan, auf Schmerz beruhend, der im Moment der Reifung auch für die Zuschauer greifbar wird: Die schwarze Wand wird samt Medea von der Hinterbühne nach vorn Richtung Publikum gefahren, drohend nah, als wollte Medea all die anderen Akteure von der Bühne ins Publikum hinein fegen – ein Bühnenbild, was fatal an das der Orestie von Thalheimer erinnert: eine senkrechte Wand unmittelbar vor dem Publikum, eine Wand, von der Ströme von Blut flossen. Nun, da Medeas Mordplan feststeht, braucht sich der Schmerz in ihr auch nicht mehr als Schrei zu formen, nun spricht sie kalt und berechnend – bis zur Tat. Da knechten sie plötzlich Zweifel, sie ficht den Kampf mit sich selbst aus: gespalten in Vernunft und Leidenschaft. Und es obsiegt, natürlich, die Leidenschaft, zum Wahn geworden. Medea selbst, ganz Vernunft, ahnt es bereits: Vor welcher Tat ich steh, begreif ich wohl. / Doch stärker als Vernunft ist Leidenschaft. / Aus ihr entsteht der Menschen schwerste Leiden. Medea, die Rasende,  kann nicht anders: sie nimmt das Leben, das sie gegeben hat, wieder zurück. Tiefer kann kein Schmerz sein. Heftiger kann sich kein Schrei entfalten, als der von Medea ausgestoßene stumme Schrei, der ihr die Zunge aus dem Rachen zu reißen scheint. Hämmernde Musik und auf die Medea-Wand projizierte Piktogramme des Lebens, die in immer schnellerer Taktfolge durch Medea hindurch zucken. Grandioser Höhepunkt, der das Blut stocken lässt, der den eigenen Schrei, der sich gerade zu formen beginnt, mit entsetztem Schweigen abwürgt. Intensiver kann Theater nicht sein. Da stört auch weniger, dass Thalheimer den Chor der Korinthischen Frauen nur mit einer Person, mit Bettina Hoppe, besetzt. Thalheimer hat seine Inszenierung ganz auf Medea, ganz auf Constanze Becker zugeschnitten, ohne sie auf die reine Kindsmordgeschichte zu reduzieren. Nein, Thalheimer vollzieht den Gang zu den Wurzeln, hinab in die archaischen Tiefen der menschlichen Seele, der menschlichen Gesellschaft: Handeln wir nicht alle wider unsere Vernunft? Ein notwendiger Gang, ohne den die feministische Bearbeitung des Medeastoffes durch Christa Wolf oder die Verhackstückung des Medeamaterials durch Heiner Müller nicht denkbar wäre.
Thalheimers Medea ist nicht nur zu Recht zum diesjährigen Theatertreffen eingeladen worden, sie ist die würdige Eröffnungsinszenierung. Sie zeigt, was Theater sein kann!