von Dieter B. Herrmann
Gegenüber der Stadtvilla Zittauer Straße 22 in Dresden prangt ein Magnolienbaum in voller Blüte. Der leichte Regen, der an diesem wolkenverhangenen Apriltag seit Stunden die Neustadt umhüllt, hat die Blätter kräftig geputzt.
Die Frau, die hier am 15. Mai 1903 Jahren geboren wurde und ihre Jugend verbrachte, musste allerdings später Jahrzehnte ihres Lebens ohne Regen auskommen. Es hatte sie in eine der trockensten Regionen unserer Erde verschlagen – nach Nasca im peruanischen Hochland der Anden. Maria Reiche, von der hier die Rede ist, wuchs in dem vornehmen Villenviertel als Tochter eines Amtsgerichtsrates und seiner Frau gemeinsam mit dem jüngeren Bruder und einer Schwester sorglos auf. Schon als junges Mädchen entwickelte sie eine lebhafte Neigung für naturwissenschaftliche Fragen, tatkräftig unterstützt von ihrem vielseitig interessierten und gebildeten Vater. Obwohl der im I. Weltkrieg ums Leben kommt, darf sie studieren und legt 1928 ein Staatsexamen in Mathematik, Geographie, Philosophie und Pädagogik an der Dresdner Technischen Universität ab. Doch die Lage auf dem Arbeitsmarkt ist mehr als düster. Maria Reiche hangelt sich von einer befristeten Stelle zur nächsten und entschließt sich endlich, ihr Glück im Ausland zu versuchen. Da kommt ihr ein Stellenangebot des deutschen Konsuls in Cusco (Peru) gerade recht. Er hat eine peruanische Frau und sucht nach einer deutschsprachigen Lehrerin für seine Kinder. Maria Reiche wird aus 80 Bewerbern ausgewählt und macht sich 1931 auf den Weg in die legendäre alte Inka-Hauptstadt. Bald liebt sie die alte Kultur, die schon in der Schulzeit ihre Phantasie beflügelt hatte und die sie jetzt aus eigener Anschauung kennen lernt. Doch auch dieses Glück währt nicht lange. In Deutschland sind gerade die Nazis an die Macht gekommen, als der Konsul ihren Vertrag vorzeitig kündigt. Zurück nach Deutschland? Unter diesen Umständen? Ein kurzer Deutschland-Aufenthalt genügt Maria Reiche, um endgültig nach Peru überzusiedeln. Ein Zufall will es, dass sie im Hause einer Freundin den US-amerikanischen Archäologen Paul Kosok kennen lernt, für den sie Übersetzungsarbeiten ausführt. Doch Kosok ist auf den Spuren einer indianischen Hochkultur, die das Volk der Nasca im Süden Perus etwa 200 v. Chr. – 600. n. Chr. auf der trockenen Hochebene um die Stadt Nasca hinterlassen hat. Er findet geometrische Flächen, Linien und Plätze, die durch Abtragen der rostfarbenen Oberschicht, den sogenannten Wüstenlack, in den Boden hineingescharrt sind und vermutet Verknüpfungen von deren Ausrichtung mit markanten Kalenderdaten. Als sein Forschungsaufenthalt endet, überzeugt er Maria Reiche, die begonnenen Untersuchungen fortzusetzen. So findet die Lehrerin aus Dresden im Dezember 1941 ihre Lebensaufgabe, der sie sich von 1946 an mit unglaublicher Leidenschaft und Konsequenz bis zu ihrem Tod im Jahre 1998 widmet. Doch Entsagung scheint ihr nicht schwer zu fallen, ihr – die schon damals (als es noch nicht Mode war) von Nüssen, Früchten, Gemüse und Haferflocken lebte. Das bescheidene Domizil ohne Strom und Wasser, indem sie lebte und arbeitete, kann man heute besichtigen. Tag für Tag zog sie von hier mit ihren einfachen Messgeräten auf die Pampa hinaus, um unter einer unbarmherzig brennenden Sonne die Linien zu vermessen. Indem sie den Linien folgte, entdeckte sie Figuren, die niemand zuvor je erschaut hatte. Die heute so genannte Spinne war die erste von ihnen. Die Panamericana, jenes gewaltige Straßensystem, das mit wenigen Unterbrechungen von Alaska bis zum südlichen Feuerland verläuft, war in den dreißiger Jahren ohne Rücksicht mitten durch die Figuren hindurch angelegt worden, weil sie niemandem aufgefallen waren. Immer wieder sucht Maria Reiche nach Ausrichtungen zu den Sonnenauf- und -untergangspunkten am Beginn der verschiedenen Jahreszeiten. Gemeinsam mit Kosok entstehen nun bald auch die ersten Publikationen. Insgesamt entdeckt sie rund 50 Figuren, vermisst und fotografiert (teils aus der Luft) 1000 Linien in einem rund 150 Quadratkilometer großen Areal der Pampa.
In den Siebziger Jahren kam es zu einer Explosion des Tourismus, wozu auch Erich von Dänikens Hypothese beigetragen hatte, die Nasca-Linien markierten die Landeplätze von Außerirdischen. Nun setzte sich Maria Reiche gemeinsam mit anderen für den Erhalt der Linien ein. Ein langwieriges und schwieriges Unterfangen begann, das schließlich dazu führte, dass niemand mehr auf der Hochebene von Nasca herumtrampeln durfte, sondern nur noch Überflüge möglich waren. 1994 schließlich wurden die Linien vor allem dank ihres Einsatzes auf die Liste des Weltkulturerbes der UNESCO gesetzt. Die Peruaner liebten sie dafür und verehrten sie wie eine Heilige. Ehrendoktorwürden, die peruanische Staatsbürgerschaft, der Sonnenorden der Inkas – das waren äußere Zeichen der Anerkennung für sie. Welchem Zweck die Figuren gedient haben, hat sie nie herausbekommen. Ihre Verwendung als Kalendersystem nach astronomischen Orientierungspunkten blieb zweifelhaft, da es so viele astronomisch ausgezeichnete Richtungen gibt, dass man bei den vielen Linien immer Übereinstimmungen finden kann – nach dem Zufallsprinzip. Reiche meinte aber, nur, wenn man das Leben ihrer Schöpfer, ihre Vorstellungswelt, ihre Religion richtig begreife, könne man daraus eine Idee über den Sinn dieser eigenartigen riesigen Darstellungen entwickeln. Ganz in diesem Sinne begann der Forscher Markus Reindel vom Deutschen Archäologischen Institut 1997 eine neue Serie von Forschungen. Und letztlich hat erst die interdisziplinäre Gemeinschaftsforschung unter Einsatz modernster technischer Mittel in jüngster Zeit erhebliche Fortschritte gebracht. Geodäten, Geophysiker, Anthropologen, Archäologen, Geographen und Radiometrie-Fachleute waren daran beteiligt. Es kam heraus, dass viele der Figuren bedeutend älter sind als bisher angenommen. Im Lichte der Klima-, Landschafts- und Siedlungsgeschichte der Region ergab sich das Resultat: „Die Nasca-Linien sind ein Text, der in die Landschaft eingekerbt wurde, um den Bewohnern der Region anzuzeigen, wo Wasser verfügbar ist“ (David Johnson). Untersuchungen zur Chemie, Temperatur und Leitfähigkeit zeigten, dass die Nasca-Bauern schon vor 2000 Jahren Grundwasserströme nutzten, die in den Bruchzonen der Andentäler zirkulierten. Die Geoglyphen nehmen konsequent darauf Bezug.
Zugleich fiel bei den Untersuchungen auch die Legende, dass die Geoglyphen nur aus der Luft zu sehen sind. Aufwändige Computerrechnungen auf der Basis von Laserscanning, Erdvermessung und Luftbildern zeigen, dass zwei Drittel aller Geoglyphen von allen Punkten des Gebietes aus gut zu sehen sind. Wenn die Clans ihre Wassergebiete als Machtdemonstration markierten, verbanden sie dies auch mit religiösen Zeremonien und Opfergaben, weshalb Tempel im ganzen Gebiet fehlen. Es war ein mühseliges Stück Arbeit vieler hochspezialisierter Wissenschaftler, um zu dieser Lösung des Rätsels zu kommen. Dänikens leicht hingeworfener Gedanke von Landebahnen Außerirdischer wirkt dagegen ausgesprochen naiv und oberflächlich.
Kehren wir noch einmal zurück nach Dresden-Neustadt zu dem Geburtshaus von Maria Reiche. Als ich es von allen Seiten fotografiere, öffnet sich ein Fenster im Hochparterre. „Was machen Sie da?“, fragt der Mann unwirsch hinter dem Fenster. Er vermutet wahrscheinlich einen Immobilienhai. Von Maria Reiche, die hier geboren wurde, hat er noch nie etwas gehört. In Peru kennt sie jedes Kind, in Lima gibt es einen „Maria-Reiche-Park“ mit den schönsten Nasca-Bildern in Form von Blumenrabatten und in der Peruanischen Botschaft in Berlin ist ein Saal nach ihr benannt.
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