16. Jahrgang | Nummer 10 | 13. Mai 2013

Der Bote des Frühlings – Uwe Greßmann

von Peter Will

Ein Mann geht durch die Stadt. Er geht schnell. Er ist Bote, verdient sein karges Brot bei den Gaststätten Berlin-Mitte. Ein Mann, hager, von hohem Wuchs, mit klarem, offenem Blick, hoher Stirn, leicht vorgestrecktem Kinn, winters wie sommers in einen weiten grau-grünen Lodenmantel gehüllt, der sich in einem starken Gegensatz zu seinem dünnen Leib zeigt, auf dem Kopf ein dunkles Pelzkäppchen, fällt auf in seiner Umgebung. Aber der Mann ist mehr, viel mehr als ein Bote. Der Mann, der auch in seiner freien Zeit auf langen Fußwegen oder mit der Bahn durch die Stadt streift, ist ein junger Dichter, einer der begabtesten, originellsten Dichter in diesem Land. Sein Name: Uwe Greßmann.
Dieser Dichter hat den Kosmos im Kopf; Sonne, Erde, Mond und Sterne, den Staat, die Gesellschaft und Wirtschaft, Idyllen, den Kinohimmel, den Pressebaum „…auch in den Blättern des Pressebaums ist dann zu lesen…“ (aus „Werbung“), … Und er ist der Bote des Frühlings, angestellt beim Vogel Frühling, den er besingt: „… Daunen dringen aus Dir/Davon kommen die Blumen und Gräser.//Federn grünen an dir/Davon kommt der Wald …“ (aus „Der Vogel Frühling“).
Erinnerung – Es war Nacht. Irgendwann Anfang 1969. Wir kamen aus dem Lyrikclub Pankow, Vinetastraße, wo, wie jede Woche, junge Leute ihre neuesten Gedichte vortrugen. Unter den Zuhörern Uwe Greßmann, der kerzengerade auf seinem Stuhl saß, die anderen überragend, aufmerksam zuhörte und gelegentlich kritische Anmerkungen machte, die den Texten gut taten. Wir kamen also aus dem Klub und gingen zur Straßenbahnhaltestelle Berliner Straße. Wir redeten eine Weile, wahrscheinlich über Kunst, Gedichte. Der Frühlingsbote lud mich ein, ihn in seinem Zimmerchen zu besuchen und an einem vereinbarten Tag seine Zeichnungen zu betrachten. Ich hatte diesen Wunsch geäußert. Die Straßenbahn kam. Er liebte die Straßenbahn, wenn er aus der Ferne hörte, wie sie um die Kurve fuhr. Aber jetzt war keine Kurve weit und breit zu Stelle. Die Straßenbahn konnte ihre Kunst nicht hören lassen. „… In den Kurven spielen Straßenbahnen Geige …“ (aus „Ständchen“). Es war das letzte Mal, dass ich Uwe Greßmann sah.
Das Geigenspiel der Straßenbahn in der Kurve ist für den Frühlingsboten eine Feier, wenn er es aus der Ferne, in den Gärten der Stadt, hört. Und er besingt auch andere gewöhnliche Dinge des Alltags: die Seife, das Handtuch, die Zahnbürste, den Eimer; das macht, dass die Dinge menschlich werden und er redet zu ihnen: „Du seifst mich ja schön ein/Und schäumst vor Wut,/Weil ich dich in der Hand habe/Und du deine Abreibung kriegst.//Und wie weich du dann wirst/Obwohl du doch so hart sein kannst.//Aber was ist das schon?/Ich halte mich über Wasser/Und Wanne, wenn ich den Stöpsel ziehe,/Und trockne mich ab.//Da, sieh mich an, Seife,/Ich bin sauber./Und du ?“ („Die Seife“).
Erinnerung – Es war am 1. Mai 1968. Schriftstellerbasar im Kino „International“. Romanciers, Lyriker, Übersetzer hatten sich versammelt, saßen an Tischen, signierten, verkauften ihre Bücher, redeten mit ihren Lesern. An einem der Tische saß Uwe Greßmann. Auf dem Tisch ein kleiner Stapel seines ersten Gedichtbandes „Der Vogel Frühling“. Ich kaufte ein Exemplar und bat ihn, mir etwas hineinzuschreiben. In seiner wundersamen Vogel-Frühlings-Kalligrafie schrieb er: „Ich bin der letzte/Und komme zu ernten/Was ihr gesät habt.“ (aus „An den Herbst“) Ich rätselte über diese Verse und auch die Geheimen, die das Buch ein Jahr später in die Finger bekamen, rätselten.
Der Frühlingsbote schreibt Verse über Schilda, das Land, in dem er lebt. Es sind groteske, auch ironisch satirische Gedichte über die Zustände in Schilda: „…(Spruch auf der Stirn/des Eingangstoren Schildas): ‚Der du eintrittst du hast hier nichts zu lachen/Hier gilt der tierische Ernst/Willst du hier Witze machen/Kriegst du damit du es lernst/Anständig eines auf die Nuß/Daß du noch später daran denken mußt‘/Du hast hier nichts zu lachen…“ (aus „Und so empfingen mich Schildas Witze“).
Lebte der Frühlingsbote heute noch, fände er sich in einem ungleich größeren Schilda wieder und mächtigeren, geschmückten und geputzten oberen Ochsen gegenüber. Es säße vielleicht unter dem unendlich verzweigten Pressebaum und stritte mit den Blättern. Oder aber er schriebe weiter gegen Schilda an. Letzteres wäre sehr wahrscheinlich.
Uwe Greßmann hat ein kurzes Leben. Er wächst in Kinderheimen und bei Pflegeeltern auf. Seine leibliche Mutter kümmert sich wenig um ihn. Über seine Kindheit schreibt er im „Lebenslauf (1)“: „Schlimm, niemandes Kind zu sein und wie ein Anzug durch viele Hände zu gleiten. Gefall ich nicht? Könnte ich mich an irgendwen halten. An einen Bügel etwa. Ich hänge an ihm wie an einem Vater.
Er leidet zwanzig Jahre lang, seit 1949, an Tuberkulose, unterbrochen von Phasen, in denen es ihm besser geht. Als er endlich eine eigene kleine Wohnung in der Gaillardstraße in Pankow beziehen kann, wird er sich nur ein knappes Jahr daran erfreuen. „Ziehen viele in/Andere Straßen/Auch, weine nicht.//Altes Haus, ich/Bleibe noch.“ („Trost“)
Wenn er aus dem Fenster sieht, blickt er auf einen Friedhof. Dort wird sein erstes Grab sein.
Erinnerung – Ich war eingeschlossen. Zwei Meter bis zur Wand, vier Meter bis zum Fenster. Das Fenster unerreichbar hoch. Durch die Klappe wurde die tägliche Zeitung gesteckt. Eines Tages darin ein Nachruf: Uwe Greßmann war gestorben.
Uwe Greßmann stirbt mit sechsunddreißig Jahren am 30. Oktober 1969. Sein erstes Grab erhält er auf dem Friedhof Pankow II an der Gaillardstraße. Nach fast fünfundzwanzig Jahren wird er umgebettet und auf dem Friedhof Pankow III an der Leonard-Frank-Straße beigesetzt.
Manchmal flüstert es dort aus der Erde: Ich bin der Letzte und komme zu ernten, was ihr gesät habt.
Am ersten Mai 2013 hätte Uwe Greßmann seinen 80. Geburtstag feiern können.

In der Galerie Pankow ist bis zum 02. Juni 2013 eine Ausstellung über Uwe Greßmann zu sehen:„Vogel Frühling“ Hommage an Uwe Greßmann.
Galerie Pankow, Breite Straße 8, Öffnungszeiten: Dienstag bis Freitag 12 – 20 Uhr, Samstag/ Sonntag: 14 – 20 Uhr.
http://galerie-pankow.de/.