Des Blättchens 7. Jahrgang (VII), Berlin, 27. September 2004, Heft 20

Der Berg ruft!

von Kai Agthe

Nicht erst seit Luis Trenker – in dessen Rucksack es dem Volksmund nach so aussehen soll wie bei Hempels unterm Sofa –, sondern schon seit Seneca wissen auch die Philosophen: Der Berg ruft!
Zu den Denkern, die, zumindest geistig, in bis dato unbegangenes Terrain vordrangen, gehört Friedrich Nietzsche (1844 – 1900). Als er die Schweizer Alpen um Silsa-Maria für sich entdeckte, fand sich umgehend gebirgiges Vokabular in seine Schriften. Im Ober-Engadin hat er sich so wohl gefühlt wie in keiner anderen Gegend Europas. Hier wurde er Philosophemen teilhaftig, die sein geistiges Weltgebäude fundamentierten. Als Hommage an den Geist des Ortes bewegt sich auch Nietzsches Prophet Zarathustra am liebsten und am elegantesten in der Abgeschiedenheit von Gipfeln, Eis und Schnee. Während die Extreme des Hochgebirges bei Nietzsche Metaphern sind, ist Andreas Hüser sowohl mit Philosophie als auch mit Seil und Eispickel bestens vertraut. Der Autor kann deshalb festhalten: »So sehr er (Nietzsche, K.A.) selbst das ›Leben in Eis und Hochgebirge‹ beschworen und für seine Person beansprucht hat – vom richtigen Leben im Eis und Hochgebirge wußte er – soweit wir wissen – kaum etwas.« Nietzsche hielt sich, nicht zuletzt seiner Kurzsichtigkeit wegen, an die angelegten Wege. Was aber seinen Werken, wo hochalpine Bilder aufgerufen werden (allen voran dem Buch Also sprach Zarathustra), nichts von ihrer Kraft nimmt.
Es gelingt Andreas Hüser in seiner gut lesbaren Studie Wo selbst die Wege nachdenklich werden – Friedrich Nietzsche und der Berg ebenso einfühlsam wie stilistisch meisterhaft, Nietzsches Philosophie vor der Folie seiner in den frühen achtziger Jahre des 19. Jahrhunderts entbrannten Liebe für die schroffe Bergwelt der Alpen zu skizzieren. Exemplarisch kommt diese Passion aber nicht erst im Zarathustra zum Tragen, sondern schon in der in das Buch Menschlich Allzumenschliches eingefügten Schrift Der Wanderer und sein Schatten (1889), wo das Gebirge erstmals in expressive Bilder gekleidet wird. Nietzsche schätzte die Alpen nicht nur ihres Klimas, sondern auch der Abgeschiedenheit und Bewegungsfreiheit wegen. Und so werden wir bei Hüser stets an das Wort aus Nietzsches Autobiographie Ecce homo (1888) erinnert, demzufolge »das Sitzfleisch die eigentliche Sünde wider den heiligen Geist« des kreativen Individuums ist.
Man merkt allenthalben, daß Andreas Hüser als Nietzsche-Interpret kein Bewohner des Elfenbeinturms ist, sondern wie dieser (geistige) Höhenluft braucht. Wie leicht hätte aus Nietzsche und der Berg eine jener verschwiemelnden und von Fußnoten zertretenen Abhandlungen werden können, die zum gleichen Thema in den Bibliotheken verstauben. Aber als Journalist und passionierter Bergsteiger versteht es Hüser, komplizierte Sachverhalte (zu Nietzsches Philosophie und zum Alpinismus) anschaulich zu erläutern. Diese Extremexpedition zu Nietzsches Gedankengebirgsketten wird, dank der flotten Diktion von Andreas Hüser, zu einem literarischen Spaziergang.

Andreas Hüser: Wo selbst die Wege nachdenklich werden. Friedrich Nietzsche und der Berg, Rotpunktverlag Zürich, 19,80 Euro.